„Fritz, du musst

aufstehen!“

Mit diesem Ruf klopfte es nachts um vier Uhr am Schlafzimmerfenster des Burgdammer Schuhmachermeisters Wätje; und dann kam die Ergänzung: „Es ist Alarm“. In seinem Alter – immerhin hatte er schon fast 60 Jahre auf dem Buckel – eigentlich eine Zumutung. Wätje war ein eher schlichter Mensch. Er war eines von acht Kindern eines Zigarrenmachers, Volksschüler, hatte sein Handwerk in Lesum gelernt, mit Mitte 20 einen Laden eröffnet und dann eine „Dienstmagd“ aus dem Ort geheiratet. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch ihn gebeutelt: Jetzt war er nur noch Mieter in dem Haus, das er einst gekauft hatte.

Wahrscheinlich hat er sich später mehr als einmal die Frage gestellt, warum er in dieser Nacht nicht etwas von einer Krankheit erzählt und einfach durchgeschlafen hätte. Doch „Dienst ist Dienst“, und außerdem wäre das eine Blöße gegenüber den Kameraden gewesen. Schließlich kannte er als Soldat im Ersten Weltkrieg Befehl und Gehorsam – in seinem deutschnationalen Veteranenbund wurden soldatische Tugenden hoch gehalten. So marschiert auch er zum SA-Sturmlokal gegenüber der Lesumer Kirche. Vielleicht hoffte er in dieser Nacht aber auch auf eine Aktion. Gut möglich, dass er sich später als Unschuldslamm zu präsentieren versuchte.

Schon am Abend des 9. November 1938 hatte er mit seinem SA-Sturm im Lesumer Mühlenbach-Lichtspielhaus an einer der „üblichen Heldengedenkfeiern“ für die Märtyrer des Hitler-Putsches von 1923 teilgenommen. Da war von irgendwelchen Aktionen keine Rede. In der gängigen martialischen Sprache war dort verkündet worden, dass ein deutscher Diplomat nach dem Attentat eines Juden in Paris verstorben sei. Dass zur gleichen Zeit in München das Startsignal für das Pogrom gegeben wurde, davon wusste man in Lesum noch nichts.

Stunden später strömten dann in der Nacht zwischen 60 und 80 Mann aus dem Reservesturm Lesum vor dem Sturmlokal zusammen. Im Hintergrund organisierte der Lesumer Bürgermeister – gleichzeitig der örtliche SA-Führer – die geplanten Morde. Die Truppführer suchten im Einzelgespräch die Schützen zu finden. Pistolen waren vorhanden. Ein Kleintrupp wurde nach Platjenwerbe zu dem Monteur Sinasohn geschickt, während der Lesumer Bürgermeister das Kommando zum Ritterhuder Rabiner der Region übernahm. Die Masse der Männer sollte zum ungefähr 600 Meter entfernten Haus der allgemein bekannten Arztfamilie Goldberg marschieren. Wätje gehörte zum gespenstischen Haupttrupp.

Angekommen vor dem Haus, gehörte er zu denen, die vom Truppführer mit ins Haus geschickt wurden – oder sich auch nach vorne drängten. Dort war er einer der acht bis zehn Augenzeugen, die in der Wohnung der Goldbergs standen, als der Truppführer den ausersehenen Schützen immer wieder unter Druck setzte, die Tat nun endlich auszuführen. Dann fielen die Schüsse. Wätje sagte aus: „Ich bin in den Flur gegangen, weil mir schlecht wurde.“

Nur sechs Wochen nach der Besetzung Bremens gehörte Wätje zu den rund ein Dutzend Männern, die von der Kriminalpolizei verhaftet wurden. Auch er war mit im Haus Goldberg gewesen und damit als Mittäter verdächtig. Was ihn von anderen unterschied: Er nannte den Ermittlern die Namen von Männern, die mit im Haus gewesen waren. Damit durchbrach er die Kameraderie der SA-Leute, die ihre Aussagen inzwischen mit ihren Rechtsanwälten abgesprochen und sich so als großes Weißwäscher-Unternehmen zusammenschlossen hatten. Wätje sollte als senil abgestempelt werden, Entlastungszeugen marschierten auf.

Wätje wurde in die Enge gedrängt, am Ende stand ein psychologischer Test. Das Ergebnis entsprach den Wünschen der Verteidiger. Das Gutachten bezweifelte die Erinnerungen des mittlerweile 68-Jährigen – vielleicht wolle er seine Schuld als nur als einer von vielen verringern. Aus der Haft schrieb der so Diskreditierte seiner Familie: „Wenn so Zeugen kommen, halte ich meinen Mund nicht. Denn was meine Augen gesehen haben, lasse ich mir von niemanden abstreiten.“

Seine Empörung lief ins Leere; gegen die vielen Entlastungszeugen kam er allein nicht an. Als der Prozess dann stattfand, spielte er nur noch eine Nebenrolle. Aber auch er hatte „Glück“, denn das Gericht akzeptierte seine Aussage, er hätte bis zuletzt nichts von dem Ziel des Marsches zu den Goldbergs gewusst. Damit blieb er straffrei.

Die Rede davon, man hätte bis zuletzt nichts gewusst, ist mehr als zweifelhaft. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte des Landwirts, der zu spät am Sturmlokal ankam. Als er das Ende der schon marschierenden Truppe erreicht hatte, fragte er, was denn los sei. Da flüsterte man ihm zu, es ginge zu den Goldbergs. „Zum Erschießen.“ Wenn das sogar am Ende der Menge bekannt war, werden es alle gewusst haben. Das Gericht kapitulierte vor der Phalanx der alten Kameraden, die mitunter logen, dass sich die Balken bogen.

Bei der Lektüre der Papierstapel im Bremer Staatsarchiv verwandelt sich der Leser wider Willen in einen Kriminalisten. Er versucht, die wirklichen Motive der Scharfmacher und Mitläufer zu entschlüsseln und stößt immer wieder auf ein Dickicht widersprüchlicher Aussagen.

Das scheinbar so klare Bild vom widerwärtigen Pogrom löst sich auf in ein Puzzle unterschiedlichster Akteure. Da gerät zum Beispiel der Vorgesetzte des Lesumer Bürgermeisters ins Blickfeld des Lesumer Haupttäters. Obwohl beide in der Nacht noch berieten, was zu tun sei, kamen sie zu bei gleichem Kenntnisstand über die „Befehlslage“ zu gegensätzlichen Ergebnissen. Der eine verantwortete am Ende drei Morde, der andere beließ es bei dem „üblichen“ Verwüsten von ein paar Wohnungen und dem Einschlagen einiger Fensterscheiben.

Die Lektüre lehrt, dass Erinnerungsrituale und die Klischeebilder von Nazis unser Vorstellungsvermögen behindern. Erst die Annäherung an die handelnden Figuren kann uns zeigen, in welchen Etappen der Weg in die Verbrechen des Nationalsozialismus bereitet wurde. Die Täter in Bremen-Nord lernten, dass Juden Freiwild waren.

Achim Saur, Historiker, Autor;

lebt in Bremen

Zu diesem Thema gibt es im

Heimathaus Lesum in Kooperation mit dem Kulturhaus Brodelpott eine szenische Lesung zu den Geschehnissen in der Pogromnacht 1938.

Fr.: 09.11.2018, 19.00 Uhr

80 „ganz normale“

Männer.

Eintritt 4 €, Mitglieder 2 €.