Doch nicht heraus

Eigentlich sollen wir zum 1. Mai demonstrieren – dabei gibt es die Arbeiterschaft doch gar nicht mehr

Die versammelte Arbeiterschaft trifft sich an der Meckerwiese in Fähr-Lobbendorf. Nicht wenige sind entweder noch halbwegs volltrunken oder dünsten den vorhergehenden Abend noch aus – Restalkohol eben. Dann legt der Spielmannszug los und gefühlte 2.000 Menschen ziehen zum Sedanplatz. Dort warten genauso viele Menschen in gleichem Zustand wie die Marschierer. Die Männer sind übrigens fast unter sich.

Und dann gibt es da eine große Bühne. Gewerkschaftsflaggen wehen im Wind und aus den Lautsprechern krächzt noch mehr Blasmusik. Männer auf der Bühne sprechen von Arbeitnehmerrechten. Die Kinder unter den Erwachsenen verstehen nur Bahnhof. Aber das macht nichts, sie werden eh bespaßt. Nach knapp eineinhalb Stunden ist alles vorbei.

Die Demonstranten verteilen sich auf die umliegenden Kneipen und passen ihren Alkoholpegel an den gestrigen Abend an. Zwischen Bier und Korn fabulieren sie natürlich lallend über Arbeitnehmerrechte. Anschließend geht es wankend nach Hause, wo Mutti schon mit dem Mittagessen wartet.

Kindheitserinnerungen an den 1. Mai. Die Demo hat immer dazugehört. Mit all ihren Begleiterscheinungen, wie Keilereien zwischen Linken und der Polizei. Auch Demonstrationsteilnehmer scheuen sich nicht, den Leuten von der DKP oder dem KBW einen oder mehrere auf die Zwölf zu hauen. Am 1. Mai in den 1970ern und den frühen 1980ern geht es robust zu. Aber es geht trotzdem immer um die Arbeiter.

Tja, so war das damals. Heute wird der 1. Mai als gesetzlich festgelegter „Tag der Arbeit“ gefeiert – nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern. Aber wo sind die Arbeiter?

Soziologisch ist diese Spezies längst ausgestorben. Wer einmal genau hinschaut, stellt fest: An der alljährlichen Demo in der Bremer Innenstadt nehmen viele Menschen mit gesichertem Job im öffentlichen Dienst teil.

Die wenigen Leute aus dem gefühlt linken Spektrum mit ihren „Hoch die internationale Solidarität“-Rufen sind erstens überschaubar und zweitens eine lustige Mischung: Sie wirken wie eine aus der Zeit gefallene Karikatur.

Eine andere Erfahrung: 1. Mai-Demo vor einigen Jahren in Vegesack. Vielleicht 200 Versprengte stehen herum. Auffallend sind Bremen-Nord Rest-Stalinisten – jenes Häuflein, das jeden Freitag unter dem Label „Nordbremer Bürger gegen Krieg“ eben gegen den Krieg demonstriert. Am Ende fordert ein Mensch aus diesem Kreis, die Teilnehmer auf, ein altehrwürdiges Arbeiterlied zu singen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.“

Es wirkt ja schon sehr belustigend, wenn es Sozialdemokraten auf ihren Parteitagen singen. Aber hier, im kleinen Vegesack, singt der Mann sämtliche Tonlagen durch. Gleichzeitig, wohlgemerkt, und nicht nacheinander! Die meisten Teilnehmer halten wacker aus, einige singen sogar mit, was das Ganze noch schrecklicher macht. Kurzzeitig steht eine Anzeige wegen Körperverletzung im Raum. Glücklicherweise hat „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ nur drei Strophen. Der Spuk ist also schnell vorbei. Doch die musikalische post-traumatische Belastungsstörung ist geblieben. Bis heute!

Nun also steht der 1. Mai wieder vor der Tür. Aber eben davor. Da wegen der Corona-Pandemie nichts mit vor die Türe gehen ist, fällt die Demo in diesem Jahr aus. Macht nichts! Arbeiter sind – siehe oben – sowieso ausgestorben. Es gibt nur noch Facharbeiter. Die kommen aber nicht heraus zum 1. Mai. Und es wird nicht gesungen. Da bleiben die schönen Versionen von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ wenigstens in Erinnerung. Corona hat eben doch etwas Gutes.