Wir schreiben das Jahr 1930 – und befinden uns in Blumenthal, im Ortskern, in der Mitte des preußischen Kreiszentrums.

Die Weltwirtschaftskrise trifft auch diesen Ort mit voller Wucht; die BWK – mit 3.700 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in der Region – droht zu Beginn des Jahres mit Massenentlassungen und dem Absenken der Arbeiterlöhne.

Wir werden Zeugen einer Erfindung, deren Umsetzung zwar misslingt; die Kunst des Scheiterns aber heißt: einen Ausweg finden.

Und dessen Spuren lassen sich bis ins heutige Grohn verfolgen.

I.

Als der Heilpraktiker Wegner, wohnhaft in der Kapitän-Dallmann-Straße, im März 1930 plötzlich verschwindet, hohe Schulden und viele Versprechungen zurücklassend, bestätigt er auf seine Weise einen gängigen Verdacht: Heilpraktiker sind Scharlatane.

II.

Nur wenige hundert Meter entfernt laboriert ein weiterer Naturheilkundiger, Franz Güse, der sich vornehm „Magnetopath“ nennt. Lange nach seinem Einsatz als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg, nämlich erst Mitte der 20iger Jahre, hat es ihn nach Blumenthal in die Mühlenstraße 43 verschlagen. Ob Zufall oder nicht, jedenfalls praktiziert er nur einen Steinwurf entfernt vom Schmiedemeister H. Haug, Mühlenstraße 39.

Und in den Hinterhof dieser Schmiede wird Güse für ein ganzes Jahr sein eigentliches Labor verlegen.

Wir schreiben das Jahr 1930. Güses Lebensidee sollte Gestalt annehmen.

Und so berichtet die „Norddeutsche Volkszeitung“ am 26.02.1930 von einer „außerordentlich wichtigen Erfindung“ des Naturheilkundigen Güse:

„Es handelt sich um ein neues Flugmodell, das den Apparat senkrecht in die Höhe steigen lässt. (…) Sollte die Erfindung so auslaufen, wie der Erfinder hofft, dann haben wir damit zu rechnen, dass die Verwertung der Erfindung auch in Blumenthal erfolgt und die ernstliche Absicht besteht, entsprechende Werkstätten zu schaffen.“

III.

Zunächst ein Blick auf den Alltag. Güses überraschende Ankündigung, ein Schraubenflugzeug-Modell zu bauen, findet schnell Zustimmung: bei den arbeitslosen Facharbeitern im Stadtteil. Sein Vorhaben trifft im Kern einen Wunsch, den wohl alle Anwesenden schon einmal für sich empfunden haben, nämlich das Abheben von bodenmäßigen Schranken.

Denn auch in Blumenthal ist der Boden schrecklich nüchtern; die Zahl der Arbeitslosen wird sich im Verlauf von 1930 verdoppeln, über 2.800 zählt man im Dezember. In Schröders Fischbratküche erhalten Arbeitslose Sonderzuteilungen, in der luth. Kirchengemeinde ebenso. Die „Norddeutsche Volkszeitung“ berichtet im Februar von einem Demonstrationszug von Arbeitslosen, der unter den Klängen der Schalmeien durch die Mühlenstraße zieht, begleitet von der Forderung nach Arbeit und der Einführung des 7-Stunden-Arbeitstages.

Kurzum: der republikanische Boden wird auch in diesem Stadtteil dünner; noch allerdings schreiben wir Weimar.

IV.

Die Faszination der Mitarbeiter am Projekt „Luftdroschke“ wird verständlich; handwerkliche Kraft- und Feingriffe sind gefordert, Pläne werden ent- und verworfen, eine Idee wird gemeinsam materialisiert, gewinnt Konturen und verschafft Arbeit und damit strukturierenden Lebenssinn. Geld wird nicht gezahlt. Der Güse hat ja nichts.

Wir erleben, dass rund 20 Arbeitslose – ihren Berufen enteignete Menschen – sich ihr Arbeitsvermögen in selbstbestimmter Arbeit neu und anders aneignen.

Natürlich geht es um Arbeit, um von Menschen erfüllte Zeit; aber der tiefer liegende Wunsch heißt: Glück schmieden.

V.

Die technischen Details sind schnell erzählt. Der Unterbau besteht aus einem bootsähnlichen Körper, der selbst gezimmert wird. Darauf kann der Motor angeschraubt werden. Getriebestangen übertragen die Motorkraft auf drei Propeller, die am Aufbau vorne und jeweils seitlich befestigt werden. Die Tragflächen erhalten eine Segeltuchbespannung. Sitzplätze für Passagiere sind im Boot – vor und hinter dem 100 PS-Motor – vorgesehen. Gewicht des Motors: 380 Pfund.

Ein Reporter der heimischen Zeitung kann bereits am 25.03.1930 berichten:

„Der Zustrom Neugieriger ist außerordentlich stark, jedoch ist ihnen der Zutritt zur Werkstatt nicht gestattet, da dadurch das Weiterarbeiten gestört wird.

Im übrigen ist damit zu rechnen, dass in 4-6 Wochen der erste Probeflug vor sich gehen kann.“

Doch dann liegt die Erfindung brach – Geldgeber werden nicht gefunden. Konstrukteur Güse gibt nicht auf; er ahnt, dass hier etwas entsteht, was in den Dienst der Menschheit muss.

Endlich, am 04.12.1930, können wir in der Zeitung lesen:

„Am kommenden Sonntag gedenkt Herr Güse seine Konstruktion zur Besichtigung freizugeben. Sie ist unbedingt ein technischer Fortschritt zu nennen, welche der engeren Heimat und seinem Erbauer zur Ehre gereicht.“

Gegen Zahlung von Eintrittsgeld kann der Senkrechtstarter dann besichtigt werden. Zum angesetzten Probeflugtermin werden besonders eingeladen: Gerd Achgelis, Bremen, der Deutsche Kunstflugmeister; Hermann Meyer, Blumenthal, der soeben die Prüfung als Flugzeugführer bestanden hat; die Freiwillige Feuerwehr.

Um es vorweg zu nehmen: sie braucht nicht einzugreifen.

Ein Blumenthaler, Jahrgang 1905, Mitarbeiter am Projekt, schreibt in sein Tagebuch: „Die ganze Berechnung hat nicht gestimmt. Der Motor war so schwer, dass sich der ganze Apparat in die Länge zog, aber an ein Fliegen nicht dachte. Doch dümmer sind wir dabei nicht geworden, und wir haben an der Arbeit unseren Spaß gehabt.“

VI.

Güse ist, anders als sein Kollege Wegner, nicht aus Blumenthal verschwunden – schon gar nicht in die Luft.

Sein Fluggerät wollte nicht aufsteigen, sondern brach in sich zusammen.

Zusammenbruch statt Flug heißt aber auch: keine Absturzgefahr. Deshalb sind die Wünsche geblieben.

Und Güse vertraut unbeirrt seiner Neugierde; es ist wenig überraschend, dass sich die Arbeitsgruppe „Luftdroschke“ fortan weiterhin trifft – allerdings zu anderen Anlässen.

Es bleibt der eine große Gedanke: Wenn Glück nicht geschmiedet werden kann, auf welche Weise kann es sonst gefunden werden?

VII.

Die Energie des Frühjahrs 1931 spürend, geht es an die Wurzeln eines neuen Projekts. „Traumfabrik“ wird die amerikanische Filmindustrie seit 1931 genannt. Das ist es: Für dieses beschädigte Leben müssen „Tagträume“ her – für ein breites Publikum.

Als nervösen Beobachter der Kultur dürfen wir uns Güse nun nicht vorstellen; er will ein anderes Leben führen, kein Eckensteher sein, einfach nur ein neues Kino gründen.

Güse kennt das Rattern der Projektoren in den örtlichen Lichtspielpalästen; und davon gibt es gleich mehrere in Blumenthal. Deshalb kommt dieser Ort nicht infrage, auch nicht das bremische Vegesack. Aber im preußischen Grohn scheint dafür der Boden fruchtbar.

Jahre ziehen ins Land. Endlich: 1938 öffnen sich die Türen vom „Capitol“, dem Lichtspielhaus in Grohn. Güses Spuren verwischen sich; und dennoch: er kann getrost als Spiritus Rector dieses Ortes bezeichnet werden.

CODA

Ein Vierteljahrhundert später – zu Beginn der 60iger Jahre – schließen sich die Türen; auch die vom „Regina“ in St. Magnus, vom „Roxy“ in Vegesack, vom „Gloria“ in Blumenthal.

Später findet ein Supermarkt im „Capitol“ vorübergehend ein Zuhause. Danach Leerstand. Dann die „Ökumenische Starthilfe Grohn“.

Und nun – ab Dezember 2018 – beheimatet sich eine „Brotbude“ im ehemaligen Kino. Und deren Produkte erhalten einen hohen Zuspruch.

Es wird  von Warteschlangen berichtet, die an manchen Tagen bis weit hinaus auf den Bürgersteig reichen …

Gastbeitrag von Jürgen Meierkord

Franz Güse, vordere Reihe, zweiter von rechts / Foto: Privatbesitz Dieter Haug

Franz Güse, vordere Reihe, zweiter von rechts / Foto: Privatbesitz Dieter Haug