So ein Tag

Das Leben ist wie Rennradfahren, denke ich, während meine schmalen Reifen surrend über den Asphalt fliegen. Maschine und Mensch harmonieren perfekt miteinander.

Eine kleine Steigung. Ich gehe aus dem Sattel, horche in mich hinein: Kein Problem, die Atmung funktioniert und die Muskulatur verrichtet klaglos ihre Arbeit. Ich schalte einen Gang hoch und beschleunige, schaue kurz und fixiere das Ende des kleinen Hügels. Ein energischer Antritt und schon rase ich, tief gebeugt und die Hände am Unterlenker, auf der der anderen Seite der scheinbar immer schmaler werdenden Straße talwärts.

Kurble, schalte, kurble, horche in mich hinein. Alles okay. Nur ein kurzer Gedanke an das „Was ist, wenn …“ Es wird nichts passieren, treffe ich in Zehntelsekunden Entscheidungen und schiebe alles beiseite, was dem rauschenden Vergnügen schlagartig ein Ende bereiten könnte.   Die Maschine funktioniert perfekt und gehorcht klaglos meinen knappen Befehlen. Sie scheint ein Teil von mir selbst zu sein. Das Terrain wird flacher. Langsam richte ich mich auf. Der Puls sinkt, ich finde meinen Rhythmus und spüre die Leichtigkeit des Seins. Glücksgefühle durchströmen meinen Körper. Ein Ortsschild, das Erinnerungen weckt, Erinnerungen an das Gespräch mit einer siebenundsechzigjährigen Frau, deren Geschichte mich sehr berührt hat. Sie lebt, weil das Geld nicht reicht, auf einem Campingplatz ganz hier in der Nähe.

Dreißig Jahre hat sie als Erzieherin gearbeitet und muss jetzt mit 630 € Rente auskommen. Mit ein, zwei schlecht bezahlten Nebenjobs bessert sie ihr Einkommen auf. Die Frau ist einsam, sie wollte reden als sie bei mir im Horizont saß. Und ich hörte ihr einfach nur zu. Daran muss ich denken, als ich instinktiv einem Schlagloch ausweiche. Mit dem Rad gelingt das. Im Leben nicht immer. Wie wird es mir eines Tages ergehen? Ein Audi jagt dicht an mir vorbei. Hupend gestikuliert der Fahrer in meine Richtung. Er will mich nicht auf „seiner“ Straße haben. Das ist offensichtlich.   Ich will mich heute nicht streiten. Nein, heute nicht. Zu schön ist dieser Tag. Der Audi rast um die nächste Kurve. Mit ihm die Erinnerung an diese Begegnung. Ich muss die Dinge, die mir nicht guttun aus meinem Leben aussortieren, denke ich und biege scharf nach links ab. Plötzlich ein Klappern am Rad! Wie im wahren Leben eben! Einmal nur längere Zeit am Stück sorgenfrei sein. Gibt es das? Nein. Immer ist etwas: Krankheiten, Beziehungsprobleme, unangekündigte Rechnungen, böse Nachbarn, Sportverletzungen, Behördenärger, Bahnreisen, vorwurfsvolle Mütter, Internetprobleme, abgelaufene Joghurtspeisen, Schlaf- und andere atmosphärische Störungen.

Das Geräusch am Rad nervt. Ich analysiere hastig, gehe alle Möglichkeiten durch. Sind es etwa die Bremshebel, die da klappern? Oder quietscht die Kassette hinten? Zu wenig Öl auf der Kette oder sind es vielleicht doch wieder die Pedale? Hat sich die Sattelklemme gelöst? Schlagen die Züge im Rahmen aneinander? Keine Antworten. Plötzlich wieder Ruhe. Unerklärliche Dinge passieren auf dieser Welt. Auch in mir, der nun wieder gedankenlos über die windige Straße schlingert. Als die Herbstsonne hinter einer Wolke verschwindet, fange ich an zu frösteln. Ich erhöhe die Trittfrequenz, hopple ächzend über eine Bahnschiene und spüre plötzlich die Müdigkeit. Ich sehne mich nach einer heißen Dusche, dem Sofa und ganz viel Nahrung. Ich will sündigen – ohne Pause.

Udo Schmidt, unser Kultwirt aus dem
www.horizont-bremen.de