Der Geruch von Lesum und Weser.
Reflexionen zum regionalen Kriminalroman
„Utopia war gestern“ von Ursula Pickener

I.

Maria Brehm heißt die Hauptperson in Ursula Pickeners aktuellem Krimi. Ein abgebrochenes Architekturstudium liegt hinter der Protagonistin – die Wahl dieses Studienfaches wird ihr erst später klar: „Es musste etwas mit der Hoffnung auf Sicherheit, Ordnung und ein festes Fundament zu tun gehabt haben.“ (S. 67)

Später hat sie Sport und Biologie studiert, ist Lehrerin geworden und lebt zusammen mit Pawlow, einem Husky-Rüden, und Kater Darwin in ihrer „häuslichen Höhle, die ihr Sicherheit“ (S. 83) bietet.

Ihr Vater ist früh gestorben, danach hat sich die Mutter dem Alkohol ergeben – nun vertraut Maria nur ihren Tieren rückhaltlos. „Einsamkeit“, so sinniert sie einmal vor sich hin „war in diesem Konzept nicht vorgesehen.“ (S. 98)

An ruhigen Abenden trinkt sie meist Darjeeling-Tee, gelegentlich Rotwein und Prosecco, „um die Stimmen abzustellen.“ (S. 189)

Im inneren Monolog wird ihr bewusst, dass sie „Einzelgängerin“ (S. 208) ist; ja, tatsächlich: Sie hatte „Menschen nur bis auf Armeslänge an sich herangelassen.“ (S. 99)

Früher hat es zwar einen verständnisvollen und freundlichen Holger gegeben – doch erst in der späteren Liebesbeziehung mit ihrer Freundin Lisa konnte sie erkennen: „Sex kann Spaß machen.“ (S. 191)

Und zwischen den Polen Maria und ihrer Ex-Geliebten Lisa spinnt die Autorin Pickener ein kluges Netz von Beziehungen, bestehend aus Freundschaft, Neid und unterdrückten Gefühlen.

II.

Jana, Talitha, Büsra, Julian und Louis sind die Schülerinnen und Schüler, mit denen Maria es besonders zu tun bekommt.

Jana entstammt einem bürgerlichen Elternhaus mit Kaninchen im Garten – derzeit befinden sich Mutter und Vater auf einer zweimonatigen Geschäftsreise in Shanghai. Seit über einem Jahr ist sie Schülerin der Schule, in der Maria unterrichtet. Mit Talitha ist sie befreundet, mit Julian verschwistert.

Talitha ist erst vor einiger Zeit zu ihrem Vater nach Bremen gezogen. Ihre Mutter, abhängig von Drogen, lebt nun in Amerika. Talitha hat zwei Halbrüder, für die sie gelegentlich zuständig ist. Sie markiert das Zentrum der Mädchen, ist Lieferantin von diversen Ideen, sie ist „schön (…) und sehr gefährlich.“ (S. 30). Talitha kann das „Sozigewäsch“, das „Harmoniegewinsel“ und den „Bullerbü-Kitsch“ partout nicht vertragen und ist Verfechterin einer „WoM“, einer „Welt ohne Mitleid.“ (S. 32)

Büsra, ebenfalls mit Talitha befreundet, gilt als rätselhaftes Chamäleon: „Als Muslimin die Evolutionstheorie verwerfen und dennoch 12 Punkte in Bio.“ (S. 29)

Julian, Janas Bruder, freundet sich ebenfalls mit Talitha an; diese allerdings denkt über ihn: „Für ein bisschen Gefummel vertickt der seine Eltern.“ (35)

Louis taucht nur am Rande auf, mischt dennoch in der Clique erheblich mit – führt Anweisungen von anderen aus: mit toxischem Männlichkeits-Gehabe.

III.

Ja, es geht in diesem Buch um Mobbing, wie im Klappentext beschrieben. Doch das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn es geht um sehr viel mehr. Der Krimi handelt, kurz gesagt, von einer Parabel über Glück und Unglück im Leben, vom scheinbaren Ende aller Utopien, von Machtspielen, von Selbstzweifeln, von Selbststilisierungen – und vom Leid der Protagonisten.

Pickeners Mädchen freunden sich an, entfremden sich, wechseln dann flott die Seiten, sind unbehaust, obdachlos in tieferem Sinne – sie lesen nicht, sie lernen nicht, schauen keine Filme und sind – wenn überhaupt – in virtuellen Welten daheim. Erziehung zur Empathie: fehlgeschlagen!

Und in der Auseinandersetzung mit diesen Jugendlichen aktualisiert sich Marias Kindheitstrauma: Aus den Abgründen ihrer Erinnerung zieht sie quälende Bilder ihrer frühen Jahre herauf: „Wenn Mädchen sich Geheimnisse erzählten, die auf keinen Fall weitererzählt werden durften (…) war sie nie dabei.“ (S. 207). Und: „Sie war es gewohnt, dass alle nur ein kleines Stück mitgehen.“ (S. 100)

Natürlich. Um Anerkennung und Zugehörigkeit geht es auch. Und um Suche nach Halt in Haltlosigkeit.

Wir haben es mit einer Geschichte zu tun, die die Gegenwart zum Thema hat, das Jetzt; eine Geschichte, die erzählt, wie wir dahin gekommen sind, wo wir nun angelangt sind:

Pickeners Hauptperson Maria Brehm erzählt von der Abstumpfung der Eltern, der Kollegen und des Schulleiters. Jeder leidet auf seine Weise – und auf dem Weg ihrer Leiden lassen sie andere leiden. Wir befinden uns in einem Labyrinth von untergründigen Selbstzerstörungen, aus dem es scheinbar keinen Ausweg gibt.

Und Maria, die Hauptperson, die Vertrauenslehrerin, diese Lehrerin im Superlativ? Mal hat sie den notwendig freundlichen Blick, um überhaupt in die Abgründe schauen zu können – mal findet sie „Mitgefühl (…) viel zu gefährlich.“ (S. 73)

Mitunter wird sie von einer inneren Stimme getrieben, mal sagt ihr inneres Team: „Hott“ und treibt sie auf den nüchternen Boden der Tatsachen zurück. Und dieses ewige Hin und Her als Ausdruck ihrer Verzweiflung mutet sie den Lesern beständig zu.

Allerdings: Die Kombination aus Unsicherheit, Verletzlichkeit und Ehrlichkeit ist die härteste Waffe, über die Maria im Umgang mit ihrer Umwelt verfügt – und zugleich ihre offene Flanke. Und dort hinein grätscht Jana: Die Brehm habe nichts unternommen, sie habe weggeschaut! „Sie wollten nichts sehen.“ (S. 294) – und Talitha haut in dieselbe Kerbe: „Ist doch alles rille, bleib cremig und app die anderen an. Läuft schon … “ (S. 36)

Die Welt ist für Talitha ein Spiel um Macht. Wie Gegenstände werden andere Menschen von ihr nach Lust und Laune abserviert.

Noch trumpft sie auf und kann nicht wissen, dass auch ihre Flügel geschnitten werden.

IV.

Es gibt Bücher, deren Handlung man vollständig erzählen könnte, ohne etwas zu verraten – und es gibt Bücher, deren Handlung man nicht verraten sollte, um den Lesern die Spannung nicht zu verderben.

Zu den letzteren gehört das neue Buch von Ursula Pickener, ein Kriminalroman, ein Entwicklungsroman mit dystopischen, aber auch romantischen Anteilen. Etwa dann, wenn Maria Brehm sich an den damaligen Schönebecker Sand erinnert, an das Schwimmen in der Lesum oder an die Einweckgläser ihrer Oma. Es ist das Gefühl von Stimmigkeit, von Einssein: „Fast Glück.“ (S. 116)

Von Verklärung kann hier nicht gesprochen werden, vielmehr ist es Marias kindliche Erinnerung an ihr Geborgensein – oder – in der Sprache Adornos: „Die Treue zur Kindheit ist eine zur Idee des Glücks.“

V.

Pickeners gebrochene Heldin Maria Brehm ermittelt in diesem Fall nahezu auf eigene Faust, jedenfalls weitgehend ohne polizeiliche Begleitung, gelegentlich unterstützt von Robert – einem entfernten Bekannten, mit dem sie beinahe in eine Affäre geschlittert wäre „weil es so guttat, gehalten zu werden.“ (S. 153)

Taugt Maria als Ermittlerin in künftigen Krimis mit Handlung in Bremen-Nord? Auszuschließen ist das nicht. Vielleicht kündigt Frau Brehm ihre Arbeit als Lehrerin auf –  kann somit die Spuren ihrer beruflichen Herkunft tilgen und in einen weiteren Lebensabschnitt starten. Über eine neue innere Stimme verfügt sie nämlich bereits, eine „zuversichtliche, sie würde sie >Meier< nennen.“ (S. 280)

Die Lehrerin Maria Brehm mag autobiographische Züge tragen, könnte gar eine Version der Verfasserin sein. Und dennoch: Der Text sollte als Krimi und nicht als Teil einer Lebensgeschichte der Autorin Ursula Pickener gelesen werden.

Coda

Orte und Straßen, die im Buch erwähnt werden, in alphabetischer Reihung:

Abeking & Rasmussen/ Admiral-Brommy-Weg/ An Raschens Werft/ Ehemalige Feuerwache/ Jacobs-University/ Knoops Park/ Lamkens Wiese/ Lesumsperrwerk/ Lürssen-Werft/ Meierhofstraße/ Schönebecker Sand/ Schwesternheim/ Utkiek/ Vegesacker Hafen.

Gelesen von Jürgen Meierkord

Autor: Ursula Pickener
Titel: „Utopia war gestern“
Erschienen: 10.07.2019
Verlag: Fehnland
ISBN: 978-3-947-22046-5
Preis: 12 € Taschenbuch
Seiten: 311