Rezension zu „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“ von Volker Weidermann

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs geraten nicht nur in Berlin und in den Küstenstädten die gesellschaftlichen Verhältnisse durcheinander.

Am Nachmittag des 07. November 1918 flieht der bayerische König Ludwig III. samt Familie aus seinem Palais in München auf ein Landschloss am Chiemsee. Damit besiegelt er das Ende der 900jährigen Wittelsbacher Dynastie.

Zur selben Zeit versammeln sich 50.00 Arbeiter, Soldaten und Matrosen auf der Theresienwiese; Kurt Eisner – Theaterkritiker und Dichter, Führer der USPD – setzt sich an die Spitze der bayerischen Revolution und will das Königreich Bayern in eine Volksrepublik umwandeln, in ein Land der Solidarität und Menschenfreundlichkeit.

Am späten Abend hält er im Landtag eine kurze Rede, ruft Bayern zum „Freistaat“ aus, setzt sich auf den frei gewordenen Stuhl des Ministerpräsidenten und bleibt dort einfach sitzen.

Er, Kurt Eisner, der langhaarige Dichter und Journalist, will mit Hilfe der Kunst ein Modell für das gesellschaftliche Leben entwerfen. Was passiert, wenn die Kunst die Macht über die Wirklichkeit erhält? Wie geht Politik, wenn die Programmatik nicht aus Schriften der Parteien stammt, sondern aus denen der Literatur und Musik?

Die alte Welt ist kaputt. Eine wirkliche Stunde Null scheint zu beginnen, und eine neue Welt kann auf einem leeren Blatt Papier entworfen werden.

Diesen Umsturz und was danach folgt, das hat Volker Weidermann unter dem Titel „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“ in Buchform beschrieben. In seiner mitreißenden Reportage – weitgehend im Präsens verfasst – werden Leserinnen und Leser zu Augenzeugen der turbulenten Ereignisse in München zwischen November 1918 und April 1919.

Wir erfahren hautnah, dass Eisners USPD bei der Landtagswahl im Januar 1919 nur schlappe 2,5 Prozent erhält und dass er deshalb als Ministerpräsident aufgeben will.

Am 21. Februar macht sich Eisner auf den Weg zum Parlamentsgebäude, um offiziell seinen Rücktritt mitzuteilen. In Höhe der Frauenkirche wird er auf offener Straße von einem völkisch gesinnten Fanatiker ermordet.

Fünf Tage später geben 100.000 Menschen Eisner das letzte Geleit.

Und jetzt geht es in München erst richtig los. Es existiert keine einheitliche Regierung mehr. Zwar regieren zwei Regierungen vor sich hin – die Räte und die Parlamentarier –  ohne dabei die Menschen spürbar zu stören.

In dieser unregierten Stadt sammeln sich in den kommenden Wochen Traumtänzer und Spiritisten, „Wintersandalenträger und Grashörer“(Weidermann).

Am 07. April rufen Schriftsteller um Ernst Toller, Gustav Landauer, Oskar Maria Graf und Erich Mühsam die „Bayerische Räterepublik“ aus. Eben keine parlamentarische Demokratie! Minister nennen sich jetzt „Volksbeauftragte“.

„Räte“ heißt die magische Formel der Hoffnung. Der Mensch, die Stadt, die Welt: alles kann neu erfunden werden! Räte als Betriebssystem einer gerechten Welt: Demokratie wird von der Basis her gedacht, mit täglichen Besprechungen als Voraussetzung.

Da wird die Buntheit des Lebens gefeiert; auch Rainer Maria Rilke, bereits Großdichter, wirft sich ins Getümmel, schreibt wochenlang nicht eine Zeile und lauscht einfach nur den stundenlangen Diskussionen. Geschichte scheint machbar!

Ernst Toller, Dichter, 26 Jahre alt, wird Regierungschef; seine fiebrigen Proklamationen enthalten Kühnes und Verrücktes: Öffnung der Universitäten für Frauen und Arbeiter; Abschaffung der Hausaufgaben, Verbot der Anwendung des Rohrstocks, freie Bewegung der Lernenden im Unterricht; Verstaatlichung der Presse und des Bergbaus; Zerstörung des Kapitalismus durch Abschaffung des Zinses.

Unterdessen sitzt Thomas Mann, der spätere Nobelpreisträger, in seiner Villa am Herzogpark. Seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sind soeben erschienen. Mit Blick auf diese Weltverbesserer und Traumverwirklicher spricht er von Menschen, die einen „Faschingsersatz“ proben; später notiert er im Tagebuch, man „habe in einen Abgrund geblickt.“

Wie nach allen Idyllen, herrscht bald darauf Gewalt; die Dichter müssen den Polit- und Revolutions-Profis weichen, die Gegner der „Träumer“ formieren sich – sie werden von Eugen Leviné und weiteren kommunistischen Funktionären verdrängt.

Und die wissen noch nicht, dass München schon längst von Freikorps-Verbänden umstellt ist und Reichswehrtruppen aus Berlin zu deren Unterstützung anmarschieren.

Das Münchener Experiment mit der Rätedemokratie endet in einer Orgie aus Blut und Gewalt. Von fast 1.000 Toten ist die Rede.

Viele Beteiligte werden ermordet oder hingerichtet, darunter Gustav Landauer und Eugen Leviné; Ernst Toller, Erich Mühsam und Oskar Maria Graf werden ins Gefängnis gesteckt.

Volker Weidermann erzählt diese historische Traum-Episode, diese Weltsekunde der Geschichte, aus dem Blick der Beteiligten anhand von Zeitungsberichten, Akten, Tagebuchaufzeichnungen; es entsteht ein historischer Tatsachen-Thriller, ein packender Film, ein Zeitmosaik über ein einzigartiges Ereignis der deutschen Geschichte. Geschehen vor genau 100 Jahren.

Der rumänische Philosoph E. Cioran sagt, ein Buch müsse „Wunden aufwühlen, sogar welche verursachen“ – es müsse „eine Gefahr“ sein.

Volker Weidermann hat es geschrieben.

100 Jahre später: Was bleibt?

In einer Zeit, in der die Sachwalter der Macht laufend die Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen rühmen; in einer Zeit, in der Institutionen sich krebsartig aufblähen; in einer Zeit, in der die Macht des Kapitals die Ohnmacht der Politik offenbart – in dieser Zeit sollten wir uns alle einfach so viele Träume bewahren, dass sie von der Wirklichkeit nicht zerstört werden können.

Von den Münchener Träumern können wir uns ein Denken ohne Barrieren, ein Denken als Probehandeln und ein Träumen auf der Folie einer Anti-Alternativlosigkeit abgucken!

Gelesen von Jürgen Meierkord

Blumenthaler Bücherstube

Herausgeber: dtv
Erscheinungstermin: 13.05.2019 als Taschenbuch
Preis: Taschenbuch 9,95 Euro
Erscheinungstermin: 09.11.2017 als gebundene Ausgabe
Preis: gebundene Ausgabe 22 Euro
Sprache: Deutsch
Buchlänge: 288
ISBN-978-3-462-04714-1