Spätestens seit Weihnachten und Silvester wissen wir wieder einmal, dass alle Genüsse flüchtig sind – und dass derjenige ein dickes Fell haben muss, der ohne Reue genießen will.

Und schon steht das, was nicht der basalen Ernährung dient, erneut unter gängigem Verdacht: Nougat und Marzipan – diese exklusiven Götterspeisen, Schokolade, Alkohol sowieso, Chips, Tabak.

Und nun? Völlegefühl. Ab zur Beichte? Nein, auf zur Reflexion!

Gelegentlich macht sich nämlich ein tiefes Unbehagen breit. Mitunter ahnen wir immerhin: Es bedurfte eines gehörigen Maßes an Selbst-Entfremdung, dass wir unseren Körper nur dann noch spüren, wenn er schmerzt. Erst in der Krankheit melden die entkoppelten Teile ihr Recht auf Ganzheit an.

Doch wie können die einzelnen Glieder zur Ordnung gerufen werden?

Bei unseren aktuellen Reflexionen geht es nicht primär um Krankheiten, vielmehr erkunden wir in einem neuen Anlauf unterschiedliche Topographien von Körpern: vor dem Spiegel, beim ‚sozialen‘ und beim ‚politischen‘ Gehen und im Kampf um die Haut.

I.

Eine aktuelle Studie der Zeitschrift STERN besagt, 91% der deutschen Frauen seien mit ihrem Körper unzufrieden und befänden sich im Dauerkampf mit ihrem Leib um ihre Idealfigur. Diäten, Essstörungen, Trainings, plastische Operationen erscheinen als Mittel der Heilung. Immer neue Fitness-Wellen und der gesamte Schönheitskult zielen auf einen perfekt funktionierenden und makellosen Körper, der alle Zeichen von Endlichkeit vergessen lässt. Nur der Tod anderer erinnert an die Endlichkeit des eigenen Leibes.

Die Aversion gegen den eigenen Körper wird mit einem unendlichen Mangel begründet: Ich bin nicht gut genug, ich sollte, ich müsste anders sein. Ein Körper muss her, der straff ist, an dem nichts hängt oder gar schlackert.

Umtauschaktion im Kaufhaus Leffers, Vegesack: Eine Frau Mitte dreißig – Sonia heißt sie – schlank und auffallend hübsch, allein, vor einem körpergroßen Spiegel stehend. Kleider werden anprobiert, Röcke, Hemden, auch Pullover. Sie weiß, dass es zweifellos die Kleidung ist, die entscheidend mitbestimmt, wie sich ihr Körper darstellt.

Jetzt ein prüfender Blick in den Spiegel – keine selbstgefällige Bewunderung, keine Eitelkeit, kein Narzissmus. Es steckt mehr dahinter: Die junge Frau begutachtet misstrauisch ihren Körper und beobachtet sich selbst wie in einem fremden Spektakel.

Es scheint, als hole sie sich eine Begutachtung von außen – durch die Blicke der anderen, durch eine vorgestellte Öffentlichkeit. Im Spiegelbild werden die Blicke der anderen vorweggenommen. Und diese Blicke erlebt die junge Frau als Heimsuchung schlechthin – oder, wie Jean-Paul Sartre schreibt: Es ist „der heimliche Tod meiner Möglichkeiten“.

Die Versöhnung mit dem eigenen Körper fällt auch deshalb so schwer, weil sie genährt wird durch die Gewissheit, dass bei der Suche nach einem passenden Partner, ja selbst bei der Jobsuche oder beim Aufstieg im Job der Körper von Gewicht sein wird. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Erfahrungen mit dem eigenen Leibe sind existentiell; gegen die Zudringlichkeit des Blicks werden oft Mechanismen des Schutzes entwickelt – ein ständiges Lächeln etwa, auch diverse Impulse einer aggressiven Abwehr.

Noch ist er nicht zum Stillstand gekommen, dieser unerbittliche Kampf gegen den eigenen Körper.

II.

Es ist eine der denkbar geistlosesten und trivialsten Gesten: das Gehen. Wir setzen einen Fuß vor den anderen, dann wieder den anderen vor den einen.

Nur so viel zur Mechanik. In der Tat: Gehen ist einfach – und völlig umsonst.

Gehen ist auch politisch. Und demokratisch. Im 19. Jahrhundert geht der Bürger demonstrativ zu Fuß und grenzt sich gegenüber dem Adel ab, der sich mit Vorliebe in einer Kutsche herumfahren lässt.

Wer fährt oder sich fahren lässt und mit Geschwindigkeit unterwegs ist, glaubt am Ende, die Zeit ist knapp und das Leben kurz. Beim Schreiten dehnt sich die Zeit.

Und die heilende Wirkung des Gehens ist längst von Ärzten bezeugt. Es soll helfen gegen den Hochdruck des Blutes, gegen Burn-out und Depressionen und weitere Krankheiten.

Und so laufen sie mit strammem Schritt um die Lesum, flanieren in Knoops Park, gehen bis nach Blumenthal oder Farge und strolchen im gesamten Bremer Norden umher:

Lothar und Meinhard, Friedhelm und Jürgen, Günther und Horst und all die anderen. Alte weiße Männer – wie man nun sagt – Ruheständler, vom jahrzehntelangen Arbeiten im Sitzen gezeichnet. Sie alle zahlen ihren Tribut für die Missachtung des Körpers in Sitzungen und Konferenzen; kaputte Knie, kranke Hüften oder Schultern, krumme Rücken: die Rache des Leibes – sie klingt wie ein höhnisches Echo auf den aufrechten Gang.

Und nun sind sie dabei, sich vorwärts bewegend neu zu orientieren; nicht plötzlich als Körper-Fanatiker, vielmehr als Menschen, die das Vetorecht ihres Körpers endlich begreifen. Wissend, dass auch der weite Weg immer mit einem ersten Schritt beginnt. Und dass jeder Gang ein persönlicher Widerstand gegen den Stillstand des Körpers ist: Nur wer sich bewegt, sich fortbewegt, verlässt seinen Standpunkt. Und am Ende eines langen Ganges spürt man dann sogar die Welt auf den Fußsohlen.

*

Was sie praktizieren ist ein ‚soziales‘ Gehen, ein Gehen mit anderen, ein Aufbruch aus dem Trott. Gemeinsames Gehen im Freien – das lehrt die Erfahrung – macht offener. Und die Gespräche im Gehen eröffnen andere Horizonte, verwickeln plötzlich in ein Geschehen, das einer eigenen Logik folgt.

Der Kopf wird frei, die Gedanken bekommen Auslauf. „Traue keinem Gedanken, der dir im Sitzen kommt“, schreibt Friedrich Nietzsche. Denn gehen heißt auch: sich im Denken orientieren, heißt zu bemerken, wie Gedanken sich verfeinern und neue Plätze im Gehirn finden. Und provoziert die Frage: Lässt sich überhaupt niveauvoll denken, ohne zu gehen?

Der aufrechte Gang war nie nur eine Errungenschaft der Evolution: Er ist auch eine ständige Verpflichtung für eine Haltung zur Welt!

III.

Das ‚politische‘ Gehen bleibt den Politikern und Machern überlassen; es signalisiert Zeitnot, Geschäftigkeit, Entschlusskraft nach Sitzungen. Denn Bilder im Fernsehen zeigen selten sitzende politische Gestalten – vielmehr gehende Politiker auf kurzen Strecken in schnellem Tempo: vom Bürogebäude zum Mikrophon. Walk and talk, walkie – talkie.

Im Grunde ist ‚politisches‘ Gehen körperlos, der Körper ist notwendiges Übel, wird mitgeschleppt als Unterbau vom Kopf.

Die politischen Körper kommen immer dann heftig in Bewegung, wenn es etwas mitzuteilen gilt, ob bedeutsam oder nicht. Und dann wird dem Betrachter klar, dass Gehen – diese Urform einer demokratischen Fortbewegung – beim politischen Gehen vor die Hunde kommt: Der Chef schreitet voran, die Wasserträger eilen hinterher.

Willi Lemke ist Bremens bekanntester politischer Geher; legendär sind seine Auftritte, er läuft meilenweit voraus, der Tross der anderen bleibt nur mit Mühe in der Spur.

Es scheint, als sei Peter Nowack dabei, sich zum kommenden politischen Geher zu mausern; jedenfalls macht er beim politischen Gang ‚auf Probe‘ von sich reden. Beim Überqueren der Ampel für Fußgänger auf dem Jenny-Ries-Platz am Blumenthaler Bahnhof muss er alles geben, um die andere Straßenseite innerhalb der grünen Phase zu erreichen, verfolgt von Presse und lokalem Fernsehen. Ein starkes Signal für kommende Auftritte.

Der gehetzte politische Geher will Zeichen der Bedeutsamkeit setzen – und landet später im politischen Sitzen mit ellenlangen Statements vor Mikrophonen und Kameras.

Und das politische Sitzen mündet leicht im politischen Schlafen und Schnarchen, wie zuletzt im „House of Commons“, dem britischen Unterhaus.

*

Das ‚politische‘ Gehen, das Bewegen der politischen Körper im Visier der Medien, ist ein aktuelles Phänomen; frühere Politiker sind gewandert oder haben einen „Waldspaziergang“ hingelegt: Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, Guido Westerwelle und Friedrich März.

Zwischen Schröder und Lafontaine war schon vor dem Gang das Band heillos zerrissen. Helmut Kohl und Franz Josef Strauß sind sich beim Wandern nahe gekommen – trotz ihrer gewaltigen Bäuche.

Vor rund dreißig Jahren musste Kohl, so heißt es, nach einer langen Wanderung Strauß auf dem Rücken aus dem Wald tragen.

Unter diesem Aspekt muss das moderne ‚politische‘ Gehen durchaus als Errungenschaft gelten.

IV.

„Wenn ein Mann meine Tattoos nicht mag, dann mag er mich sowieso nicht. (…) Die Tattoos sind zumindest etwas, das sich nie verändern wird. Und wer einmal damit angefangen hat, will immer weitermachen.“ Ihr gesamter Körper stecke voller Tattoos, nur der linke Fuß und die rechte Brust seien frei davon.

Das sagt Vanessa, 26 Jahre alt, sie verlässt soeben ein ‚Tattoo und Piercing Studio‘ im Bremer Norden.

Der gestaltete Körper mit der unverwischbaren Bemalung, mit der gewünschten Brandmarkung: der Körper als Text.

Die Tätowierung ist längst kein Protest mehr, aber gleichwohl ein deutliches Signal an die soziale Umgebung, in der sich der Körper aufhält: Ich muss mich meiner Haut nicht schämen.

Völlig nackte Körper werden mit Natürlichkeit und Unschuld verbunden. Das Wahre ist das Unverhüllte. Offenlegen, enthüllen, entblättern, entkleiden – in diesen Vorstellungen ist die Wahrheit nackt.

Der tätowierte, glatte und herzeigbare Körper spielt mit der Lust an der Entblößung und mit der Lust an der Verhüllung.

Im Alter wird der Körper dann wieder den Blicken entzogen: Die Veränderungen der Haut lassen den Leib faltig werden.

Und der früher erotische Blick auf den eigenen oder den fremden Körper mutiert zum medizinischen Blick: Du solltest besser zum Hautarzt gehen!

Jürgen Meierkord 

Kulturbeobachter