Wer sich wenig bewegt, das zeigen diverse Studien, stirbt früher. Fehlende Fitness ist schlimmer als Rauchen, Diabetes oder Bluthochdruck – so das verblüffende Ergebnis einer amerikanischen Langzeitstudie.

Das Fitness-Versprechen heißt: Ein gutes und langes Leben ist machbar. Zwar sind wir dem Kapitalismus ausgeliefert, doch über unseren Körper können wir selbst bestimmen.

Und tatsächlich: Die Toleranz gegenüber dem Vergessen des Körpers ist geringer geworden; oder andersherum: Die Notwendigkeit ist gestiegen, sich seines Körpers zu versichern.

Deshalb gehen wir auf eine Reise durch den Bremer Norden, holen uns Einblicke und werden sehen …

Wir beginnen aber mit einem literarischen Faulpelz.

I.

Ilja Iljitsch Oblomow heißt die Hauptperson in Iwan Gontscharows Roman mit demselben Titel, entstanden 1859; er ist ein literarischer Superstar, einer der berühmtesten Russen aller Zeiten. „Liegen“ – so heißt es im Roman – „war sein Normalzustand.“ Er ist 32 Jahre alt, mittelgroß, schaut gut aus, doch „seinen Gesichtszügen fehlte jede geistige Kraft.“

Oblomow ist ein ermatteter Liegespezialist, ein Faulpelz auf bequemem Matratzenlager, ein Müßiggänger, ein Träumer, ein Weltverweigerer.

Er zieht das Kissenparadies dem Auftritt in der Welt vor. Unter der Bettdecke, eingehüllt im lockeren Schlafrock, entkommt er allen Weltverhältnissen.

Warum also aufstehen?

II.

Michael, ein Frühaufsteher, wohnt in Lesum; wie zehn Millionen andere Deutsche ist er in einem Fitness-Studio angemeldet. An diesem Montag will er seinen Körper weiter perfektionieren, und mit robuster Selbstironie kann er begründen, weshalb dieser Body sein Interface mit der Welt bildet.

Auch will er sich endlich richtig spüren, läuft Marathon an Wochenenden und klettert im Hochgebirge herum. Das wahre Leben muss her, das normale ist zu eng. Der Körper wird zur Sinn-Instanz. Fast klingt es wie eine Erweckungsgeschichte: Ich habe den Schlüssel für mein Leben gefunden.

Er ist Anhänger einer Ästhetik des Schönen, denn Schönheit, so Michael, sei das Ziel der Evolution. Das unternehmerische Selbst allerdings müsse dabei tätig werden, doch das sei im Zeitalter der Singularitäten eine zu lösende Aufgabe.

Mit heiterer Offenheit kann er dann seinen eigentlichen Antrieb eingestehen: Es ist die Angst, die ihn zum Training treibt. Die Angst? Ja, die Angst, einmal körperlich eingeschränkt, reglos zu werden.

III.

Ein diesiger Dienstagmorgen, Wätjens Park, Blumenthal. Es trifft sich eine Frauen-Wandergruppe. 35 Kilometer sollen an diesem Tage geschafft werden. Kein Rundweg wird es sein, eine Fernwanderung ist geplant. Maximal sechs Kilogramm darf der Rucksack wiegen, denn die Lust am Gehen soll nicht von den Strapazen des Gepäcktragens kaputtgemacht werden. Also: Wandern mit leichtem Gepäck.

Das heimliche Thema heißt natürlich: Was brauchen wir wirklich zum Leben? Und bei der Antwort geht es um unsere gesamte Lebensführung.

Welche Räume eröffnet uns der Verzicht? Welche Ressourcen sollen oder wollen wir nutzen, welche lieber nicht? Welchen ökologischen Fußabdruck werden wir durch unsere Entscheidungen hinterlassen?

IV.

Hündinnen bereichern das Leben. Zumindest die Bewegungen der Menschen. Und – ganz nebenbei – auch deren Sozialkontakte.

Lena, Luna, Lilly und Lana heißen die Tiere. Laika ist heute nicht dabei.

Knoops-Park, ein beliebiger Mittwoch, gegen Mittag. Lena ist die Heldin auf weiter Flur. Sie tobt umher, mit riesigen Ästen im Maul treibt sie ihre Besitzerin bis zur Weißglut. Hier hilft kein Rufen und kein Pfeifen, der Mensch läuft nur noch hinterher. Mit äußerstem Eigensinn strebt das Tier dann Richtung Wasser, nicht mehr zu bändigen durch Rufe oder gar Befehle. Auf  Verführungen mit Keksen fällt Lena ohnehin nicht rein – es geht ums Toben, ein bloßes Herumsitzen zählt doch nicht – und die Besitzerin im Dauerlauf.

Wer hält hier denn nun wen in Trapp?

Lena, so viel wird klar, dominiert die Szene, gibt Richtung und Bewegung vor: Sie diktiert die Zeit ihres Ausgang, sie ist Herrin des Spaziergangs, Herrin beim Laufen und beim Bälle-Holen. Und lässt die Besitzerin vom Glück der Bewegung sprechen.

Die Liebe zum Tier: nach Freud eine einzigartige Liebe – eine Liebe ohne Ambivalenz.

V.

Ein Donnerstagabend in einem Tanzstudio in Vegesack. Marlies und Hans sind bereits jahrelang dabei. Die Tanzgruppe, bestehend aus 15 Personen, trifft sich seit zwölf Jahren zum Tango, Walzer, Rock’n’roll, Jive, Dirty Dancing.

Schon beim Zuschauen wird die Botschaft klar: Körperliche Energie, Lust, lebendig sein in der Bewegung, vibrieren – ob elegant und dezent oder wild und hemmungslos: Der Mensch ist ein Tänzer, offenbar in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Entgrenzung des Selbst, diesen Zustand suchen Marlies und Hans immer wieder im Tanz. Eins-werden mit dem Partner beim Paartanz, verschmelzen mit der Gruppe beim Techno-Rave oder aufgehen beim Rock’n’roll wie tanzende Derwische.

Es geht um das Glück des Gleichklangs von Rhythmus und Bewegung, um die Gruppe und um den Einzelnen, um Zugehörigkeit und Individualität. Und zudem, so heißt es, könne Tanzen chronische Schmerzen, Bewegungsstörungen und Depressionen lindern.

Der Tanz, so Marlies, lote alles aus, was der Körper herzugeben bereit sei.

Männer sind in der Unterzahl. Wieso tanzen so viele Männer nicht? Die Antwort kommt prompt: Sie joggen, denn so können sie ihren gepanzerten Körper vor störenden Empfindungen schützen. Beim Tanzen geht das nicht.

VI.

Ein Freitag. Ort: Stadtgarten Vegesack. Rund 150 junge Leute sind unterwegs. Jeder für sich, mit suchendem Blick, das Smartphone in der Hand. Es sind Pokémon-Go-Spieler und Spielerinnen, die flanierend den Stadtgarten und das obere Vegesack erobern.

Die ursprünglichen Flaneure – die Flaneure im 19. Jahrhundert – sind Männer, Schlenderer, die so tun, als ob sie nichts tun, dabei aber die Augen sehr gut aufmachen. Menschen mit hoher Neugier für die Außenwelt.

Ein Flaneur ist entspannt, schaut nicht auf die Uhr, blickt umher und nimmt wahr, was um ihn herum existiert.

Früher, so wird gesagt, führten Flaneure Schildkröten an der Leine mit sich herum, um sich zur Langsamkeit zu zwingen.

Flaneure schlendern, sie trödeln – sie wandern jedenfalls nicht. Denn das passiert in der ursprünglichen Natur. Im Flanieren steckt Urbanität und Modernität.

Und davon sind die Pokémon-Sucher nicht weit entfernt: Sie bleiben stehen, denken nach und gehen weiter. Das Pendeln zwischen Innenwelt und Außenwelt setzt Gedanken frei; denkend in Bewegung, werden uns die neuen Flaneure auch Auskünfte über die Begehbarkeit unseres Ortes erteilen können.

VII.

Oblomow, der Herr aus der Einleitung, braucht rund 150 Seiten, um seinen Diwan für Momente zu verlassen. In seinen wachen Träumen ist er der tätigste aller Menschen, ein Heros der Weltgeschichte, der glaubt zu handeln, aber nur untätig im weichen Sofa liegt. Dieser Bewegungsmuffel, dieses Genie in der Trägheit des Aufstehens, liegt stellvertretend für uns alle im Bett.

Schauen wir uns mitunter die Welt nicht voller Sorgen an und wünschen dann, wir brauchten uns nicht zu bewegen und könnten uns einfach nur verstecken? Oblomow versteckt sich für uns.

Führt Oblomow ein schlechtes Leben?

Die Revolte gegen dauernde Ansprüche beginnt im Bett. Oblomow, Yoko Ono und John Lennon haben das gewusst: Schlafen ist ein subversiver Akt.

„Revolutio“ heißt im Wortstamm „Zurückwälzung“, „Umdrehung“. Und wälzen und drehen kann man besonders gut im Bett.

Juergen Meierkord

Jürgen Meierkord – Kulturbeobachter