Wo ist Jana?

Die Vertrauenslehrerin Maria Brehm verbringt ihre freie Zeit am liebsten bei einer Tasse Tee und mit ihren Tieren. Doch dann verschwindet die Schülerin Jana, was scheinbar außer Maria niemanden interessiert. Unterstützt von ihren Vierbeinern macht sie sich auf die Suche nach der Jugendlichen und begegnet

einem Geflecht aus Mobbing, Lügen und Ignoranz.

Als Morddrohungen in der Schule ankommen, erkennt Maria, dass es um Leben und Tod geht …

Kapitel 1

Gorilla gorilla: Silberrücken

Aufrichten, Arme leicht vom Körper abheben, Ellbogen nach außen, Kinn runter, Blick nach vorn. Imponiergehabe wie im Gorillagehege …

Maria ging den wartenden Schülern ihres Bio-Leistungskurses entgegen. Auch heute beschlich sie ein ungutes Gefühl dabei. Sie streckte den Rücken noch einen weiteren Zentimeter und obwohl sie gut im Training war, hatte sie weiche Knie, Atemnot und schweißige Hände. Als Silberrücken wäre sie verloren.

»Seltsame Klasse, die gucken weg oder durch mich durch, juveniles Vermeidungs- oder Beschwichtigungsverhalten, könnte man meinen«, dachte Maria, und begrüßte die Schüler mit einem betont munteren »Guten Morgen, Damen und Herren!« Keine Reaktion. Handys wurden gestreichelt, sorgsam lackierte Nägel inspiziert, Sekundenschlaf zelebriert. War das Überdruss und Langeweile oder Ignoranz und Dominanzgebaren? In jedem Fall eine massive Mauer, an der dezente Pädagogik abprallte.

Maria stellte sich mit dem Rücken zur Tür und hob die Stimme: »Also, noch einmal: SCHÖNEN. GUTEN. MORGEN!, Schülerinnen und Schüler des Biologieleistungskurses am Mies Rohland Schulzentrum!«

Murmeln, einige halblaute, halbherzige »Morgen«, »Moin«, sogar vereinzelt »Hallo Frau Brehm« …

»Schon besser, kommt rein«, sagte sie. Hatte sie überreagiert? Es war früh, die Schüler waren müde, der Novemberblues, Dienstag und die Woche nahm kein Ende und wer weiß, was bei denen zu Hause … Andererseits war der Welpenschutz langsam vorbei. Wenigstens rudimentäre Höflichkeit sollten sie lernen, um auch außerhalb des Schulbiotops und Streichelzoos überlebensfähig zu sein.

»Fahrkartenkontrolle!« In bester Hans-Albers-Manier begann sie das Ritual der Anwesenheitsfeststellung.

»Och nöö! Nicht das schon wieder – hallo, wir sind’s. Die kennt uns doch langsam«, murrte Talitha, die Klassensprecherin, und verdrehte die Augen, während die anderen geräuschvoll in ihren Taschen kramten, mal eben noch etwas posteten, dem Nachbarn Fotos zeigten oder die Matheaufgaben verglichen.

»Jetzt mal Ruhe, Leute, wir fangen an«, sagte Maria und ignorierte den Einwurf. Sie schlug den Klassenordner auf und klopfte aufs Pult. Es wurde leiser.

»Ben« –«Ja« – »Ömer« –«Hier« – »Büsra« –«Ja« – »Lara« –«Ja« – »Talitha« – »Hmm« – »Maren« –«Ja« – »Jana – Wer weiß etwas von Jana?«

Verspätungen, Erkrankungen und leider auch jedes andere Ereignis, egal wie peinlich oder dämlich, wurde gepostet, gesimst oder sonst wie in die digitale Welt geblasen.

Von Jana aber wollte keiner etwas wissen.

»Wer sagt ihr, dass sie sich melden soll? Ihr suchender Blick in die Runde blieb ohne Erwiderung. Die Mauer war wieder geschlossen.

Kapitel 2

Anas platyrhynchos: Stockente

»Komm, Pawlow, mir reicht’s, raus aus der Anstalt«, sagte Maria und ihr Huskyrüde, der im Büro auf sie gewartet hatte, war sofort hellwach.

Mit Schwung radelte sie an der Sporthalle vorbei und über den Schulparkplatz. Schnell waren sie am Lesumdeich. Pawlow gab Gas, nach über 5 Stunden Wartezeit gierte jede Faser seiner Muskeln nach Bewegung. Er raste voraus. Nutzte den Vorsprung, warf sich oben auf den Rücken, um sich genüsslich durch Gras und Maulwurfshügel hinunter zu winden. Maria trat mit Kraft in die Pedale, die Wiesen rechts von ihr flogen nur so vorüber. Sie war froh über ihren Rückweg, ihre »Adrenalinfresserstrecke«.

Ardea cinerea! Zwei – nein, drei Graureiher staksten über Lamkens Wiese und sahen ihnen nach. Die Kühe käuten gelassen wieder. Pawlow war zur Lesum hinuntergelaufen, über die Ufersteine ins Wasser. Er schwamm und soff dabei – Abkühlung hoch zwei.

Dann sprintete er hinter Maria her. Im Laufen schüttelte er sich, die Beine wurden ihm fast unter dem Körper weggerissen und als er sie einholte, war er wieder trocken.

»Los, du Ente, nach Hause!«, rief sie.

Hinter dem kleinen Segelhafen, jetzt ohne Stege, bog sie in den Park ein.

Immer schwärmte Maria Freunden aus der Stadt davon vor. An sonnigen Wochenenden fand sie allerdings, dass er doch ein Geheimtipp bleiben sollte, und zur Kohl- und Pinkel-Zeit verfluchte sie seine Beliebtheit.

Nach sensationellen 22 Minuten stellte Maria ihr Rad hinter die ehemalige Feuerwache.

(…)

Kapitel 6

Utopia war gestern

Als Maria aus der Sporthalle kam, stand Talitha schon vor ihrem Büro.

»Komm rein, setz dich – Tee?«

»Nee.«

»Talitha, kannst du dir denken, weshalb ich dich sprechen möchte?«

»Nee, keinen Schimmer, was Büsra hat, die labert doch nur.«

»Büsra hat mir gar nichts erzählt, als sie euch gesehen hat, war es nicht mehr so wichtig. Was hätte sie denn ›labern‹ können?«

»Weiß ich doch nicht, aber es ist doch immer so, irgendjemand macht irgendwas und Sie haben mich auf dem Kieker.«

»Du fühlst dich von mir ungerecht behandelt«, schaltete Maria auf Mediatorin um »und nicht richtig gesehen?«

Achselzucken bei Talitha, sie war noch im Trägheitsmodus.

»Du wünschst dir, dass ich mehr darauf achte, was du sagst, und dich wohlwollender beurteile?«, leierte Maria absichtlich herunter.

»Oh no, nicht das Sozigewäsch! Was wünschst du dir? Wohlwollen?! Das geht mir doch voll am Arm vorbei! Soll ich Ihnen mal was sagen, ich kenn dieses ganze Gelaber von rauf nach runter, dieses Harmoniegewinsel, dieser ganze Bullerbü-Kitsch.« Talitha sah Maria an, sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie auf ihre Oberschenkel. Maria griff die Thermoskanne und schenkte zwei Becher Tee ein. Einen schob sie Talitha hin. Die nahm den Becher, pustete hinein und sagte leiser: »Das Leben ist nun mal nicht heile Welt. Utopia war gestern, heute ist WoM und Sie können mich nicht leiden -okay-, so wie ich Sie nicht leiden kann, weil ich die Schule nicht vertrage, und das ist Sache jetzt!«

»WoM?«, fragte Maria.

»WoM: Welt ohne Mitleid. Jeder gegen jeden eben, normal.« Sie stellte die Tasse hart auf den Tisch. »Oder für Sie als Biolehrerin: Der Stärkere überlebt.« Talitha sah Maria herausfordernd an. Es war klar, dass sie sich sicher war, wer von ihnen beiden die Stärkere war.

Da war er: Der schnelle Wechsel vom scheinbar trägen Dahindümpeln in aggressives Zuschnappen – oder war es ein Angriff aus Angst? Jedenfalls war Maria heute ein zu großer Fisch für sie.

»Okay, also ohne Harmonie und Verständnis: Was ist mit Jana?! Du weißt etwas über ihr Verschwinden, du kontrollierst die halbe Klasse und ihr wart doch sogar mal befreundet.«

»Die Lusche und ich? Ne, anfangs hab ich einfach nicht gecheckt, wie die tickt, aber dann war klar, dass sie spinnt. Hat Scheiß erzählt über mich. So hintenrum. Da hat es Zoff gegeben und seitdem ist Ruhe.«

Ursula Pickener, Autorin, lebt und arbeitet in Bremen-Nord. Soeben ist ihr neuer Kriminalroman „Utopia war gestern“ im Fehnland Verlag erschienen.

Ein Roman, voller Lokalkolorit.