„Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Bremen Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss an den Intercity nach …“

Die Zugansage reißt ihn aus seinen Gedanken, wenn er überhaupt welche gehabt hatte. Er war auf den letzten Kilometern in eine Starre gefallen: Nicht bewegen, nicht denken, nicht fühlen. Eine Strategie, die ihm immer wieder in seinem Leben nützlich war. Totstellreflex. Wenn er Glück hatte, gingen schwierige Situationen an ihm vorüber oder jemand traf eine Entscheidung für ihn. Dann konnte er sich beklagen, kritisieren und sich schließlich mit halbem Herzen und halber Kraft unter Vorbehalt fügen.

Natürlich könnte er direkt zu seiner Schwester fahren, aber was soll er dort, nach langer Zeit mal wieder zu Hause.

Zu Hause. Warum fällt ihm das ein? Er ist längst im Sauerland zu Hause, wo er arbeitet und wohnt.

Mit Bremen verbindet ihn nur noch Sentimentalität. Wenn Werder spielt. Oder zur Kohl- und Pinkel-Zeit, wenn er Bekannten vorschwärmt, wie köstlich dieses „Nationalgericht“ ist.

Gekocht hat er es nie. Die Erinnerung ist fett genug.

Die Infotafel auf Gleis 6 zeigt an, dass die Regionalbahn nach Bremen-Nord in 30 Sekunden abfährt. Ihn überkommt die Gewissheit, das dort drüben sei „sein“ Zug, den er nicht verpassen dürfe.

Er rennt zur Treppe, hastet hinunter, läuft im Slalom zwischen Reisenden durch die unterirdische Geschäftspassage, wie es sie genauso in Dortmund gibt. Er rennt außerhalb jeder Zeit durch den ewig gleichen Tunnel, ohne Ziel, immer schon. Er rennt gegen absolute Sinnlosigkeit an. Könnte er nicht ebenso gut hier anhalten, aufgeben, wie an jedem anderen Ort der Welt?

Die Treppe aufwärts springt er. Zwei, drei Stufen auf einmal. Woher kennt er diese Notwendigkeit, den Zug zu erreichen, diese besinnungslose Eile?

Der Schaffner pfeift, hebt die Kelle, nur eine Tür steht noch offen. Er spurtet, springt ab, wirft sich unter den gehobenen Brauen des Schaffners hindurch in den Wagen.

Dort lehnt er sich gegen die Wand. Schließt die Augen und ringt nach Luft. Sein Atem sticht. Zahllose Male hatte er ebenso im Gang gestanden.

Er sieht die Treppen. Seine Füße, die in den Turnschuhen von damals hinaufeilen. Schnell, immer schnell, er spürt wieder die Kraft seiner Beine und die völlige Verausgabung.

Der Zug, ein deutlich älteres Modell, war schon in Bewegung. Manchmal erreichte er noch die hinterste Tür und zog sich hinein. Manchmal aber fuhr der Zug schon zu schnell. Dann blieb nur der Gepäckwagen, der immer offene, letzte Waggon. Wie eine Herausforderung glitt er heran.

Hier gab es keinen Griff, keinen Halt und keinen Schaffner, der eingreifen konnte, helfen oder verhindern.

Er musste allein entscheiden: Jetzt springen? – Oder jetzt? – Oder aufgeben?

Es galt von Tag zu Tag exakter den Punkt zwischen dem „gerade noch“ und dem „zu spät“ zu treffen. Alle Kräfte versammeln und in diesem Sprung LEBEN.

In Vegesack wechselt er in den Bus und fährt mechanisch, wie damals immer, bis zum Krankenhaus am Löh.

Dies war sein Höhlenwald, sein Versteck. Seine Zuflucht vor der Schule. Vor den Streitereien der Eltern. Vor dem Gefühl, nicht der Sohn zu sein, den die Eltern brauchen. Der Sohn, der sie entschädigt für ihre verlorene Kindheit im Krieg.

War es hier? Er sieht zweifelnd hinter dichte Büsche. Je mehr er sucht, desto fremder wird der Wald.

Er drängt sich durch Dornengewirr.

Ein Ast schlägt ihm ins Gesicht.

Seine Wangen sind nass. Weint er? Sogar sein Kragen fühlt sich feucht an.

Hat er je geweint, seit er nach Tagen des Schwänzens von seinem Vater aus der Höhle gezerrt worden war? Er erinnert sich nicht.

Später steht er vor dem Haus seiner Schwester in der Rosenstraße. Seinem Elternhaus.

Sie begrüßt ihn beiläufig. Er hatte sich vor dem Übermaß ihrer Gefühle gefürchtet. Jetzt fehlen sie ihm.

„Ich fahre direkt zum Friedhof, ich will noch mit dem Pastor sprechen und den Blumenschmuck sehen. Willst Du mitfahren oder gehst du zu Fuß?“, fragt seine Schwester.

„Wir gehen zu Fuß!“, sagt seine neunjährige Nichte und sieht ihn erwartungsvoll an.

Unterwegs fasst sie seine Hand. „Wir gehen durch den Wald, ich zeig Dir was!“

Nach einem Stück an der Beeke entlang weist sie auf eine Baumgruppe mit Buschwerk und Brombeerranken. Sie legt einen Finger auf die Lippen, sieht sich um und schlüpft durch eine enge Lücke im Gesträuch. Der Eingang zu einer Höhle liegt vor ihnen.

„Ist ein Geheimnis. Mama will nicht, dass ich hier spiele. Sie sagt, das ist gefährlich.“

Ein Gastbeitrag von Ursula Pickener

Ursula Pickener, Autorin, lebt und arbeitet in Bremen-Nord. Im Herbst erscheint ihr neuer Kriminalroman, der ebenfalls in Bremen-Nord spielt.