Aufwachen ist das Schlimmste, jeden Tag. Sie wacht immer vor dem Wecker auf. Sie will nicht plötzlich der Wirklichkeit wehrlos gegenüberliegen. Sie will auftauchen, wie eine Wasserleiche hochsteigt zur Oberfläche. Langsame Gasentwicklung, schweben, ziellos und doch unaufhaltsam. Auch ohne Wecker und mit Leichengas ist aufwachen schlimm genug.
Sie hat es wieder geträumt: Sie flog über eine dürre Steppe, in stechender Hitze. Hitze, die ihre Flügel dörrte, härtete. Zähe Flügel, Muskeln, Sehnen, Knorpel. Kein Blut und kein Saft. Unermüdbar, unerreichbar, schmerzlos. Sie war eine Drohne, die sich über die Steppe erhob. Aus diesem Traum muss sie in einen noch schlimmeren Tag als üblich gehen: Heute ist ihr 16. Geburtstag.

Ihr ist klar, dass sie nur aus Trägheit so alt wird. Einer Trägheit, die typisch für die Frauen in ihrer Familie ist. Frauen, die ihr Leben und ihre Männer über sich ergehen ließen. Passiv. Nicht aus Angst oder Dummheit, sondern aus dem Mangel einer Idee von sich.
Sie dreht sich zur Wand, die sie umfängt wie eine Höhle. Die Nase gegen die abgeschabte, etwas fettige Tapete. Eine Gewohnheit aus Jahren in einem Zimmer mit ihrem Bruder. Die Höhle schützt sie vor seinen schabenden Blicken auf Fehlersuche. Die Augenblicke an der Wand, nicht mehr Vogeldrohne, aber noch nicht in der Welt der anderen, unsichtbar, hütet sie wie einen Schatz. Sie kann wach sein, atmen, den Kalk der Wand, den Kleister und die Feuchtigkeit riechen, fühlen, die Augen öffnen, ohne vernichtet zu werden.

Ihren Eltern ist sie fremd und sie verschrammt ihr Bild vom richtigen, vom vorzeigbaren Leben. Sie starrten sie oft an wie Gregor Samsas Eltern ihren Sohn. Wäre sie ein Käfer, wäre alles leichter, die Schuld eindeutig. Werden Käfer 16 Jahre alt?
Die Vorstellung, ihren Geburtstag mit diesen Fremden zu verbringen ohne zu schreien und ohne mit dem Messer ihre Initialen in ihren Oberschenkel zu ritzen, kann sie selbst in ihrer Höhle nicht ertragen.
Ihr Blick fällt auf eine Postkarte, die sie sich selbst geschickt hat: Meer, tobend, gefangen unter einem schwarzen Himmel, wütende Wellen, die gegen Felsen schlagen, Gischtfetzen, vom Sturm aus den Wellenkämmen gerissen, fliegender Sand, der Strand menschenleer. Seit Jahren wartet die Karte auf diesen Tag. Sie flüstert: Ans Meer!
Sie horcht in das Haus hinein.: Nichts. Sie zieht sich an, das Messer in ihrer Jacke schmiegt sich beruhigend an ihre Hüfte. Sie greift die Schultasche und schleicht nach unten.
In der Küche weigern sich Schränke, Arbeitsplatte, Tisch sie zu begrüßen. Sie bleiben starr und ohne Spuren von Heimat oder auch nur ein vages Wiedererkennen.
Hinter ihr fällt die Haustür hart ins Schloss. Ihr Schlüssel liegt auf der Garderobe.

An der Haltestelle greift sie in ihre Jackentasche: Das Messer und 3 €. In einer halben Stunde käme der erste Bus. Sie wendet sich ab und geht in Richtung Westen. Lucky Luke ist mindestens 12 Stunden voraus.
Hinter ihr versucht der Himmel Türkis, Lila und Orange. Sie geht schneller, will fühlen, wie der äußere Schein von ihr Besitz ergreift und vorwärts drängt, zu einem unbekannten Ziel, ihrem Fluchtpunkt entgegen.
Alle Häuser schlafen noch, aneinander gelehnt, unter Bäume oder bleich rieselnde Straßenlaternen geduckt. Im Inneren gähnen vereinzelte Lampen. Der gewöhnliche Beginn, der heute nicht für sie gilt. Dieser Tag ist ein Versuch, denkt sie, während ihre Schritte an Kraft und Geschwindigkeit, an Länge und Leben zunehmen.
Der Vegesacker Bahnhof empfängt sie, abweisend, kalt. Ein Fahrkartenautomat macht ihr Vorschläge für Fahrstrecken in Richtung Meer. 2 Euro 85 bringen sie bis nach Farge. Da ist die Weser schon breiter, denkt sie, und es gibt einen kleinen Strand.
Die Bahnsteigkante drängt sich auf. Personenschaden liegt nah. Die Fahrkarte in ihrer Hand und das Meer in ihrem Kopf stimmen dagegen. Ein aufmerksamer Beobachter hinter einem der spiegelnden Fenster der Grohner Düne, hätte ihr Zurückweichen, das Nachlassen ihrer Neigung zu den Schienen hin, beobachten können.
An der Haltestelle Mühlenstraße füllt das Fenster einer nahen Wohnung die Scheibe des Abteils aus. Ein Mädchen, 5 oder 6 Jahre alt, steht vor einem Spiegel mit einem glitzernden Vogelsticker. Aus den Augen des Mädchens flackern Fragen. Ihre Blicke treffen sich über die Gleise, Böschung und Hinterhof hinweg im Spiegel: Warum ich? Warum hier? Warum so?
Der Zug schleicht sich aus dem Bahnhof.

Als sie aussteigt bleibt die Schultasche unter dem Sitz zurück. In Farge ist der Tag schon älter. Ein leichter Nieselregen überzieht die Straße mit einem Silberschimmer und nimmt die Weser vorweg.
Sie will direkt an den Strand vor dem Bunker. Ein Deich überdeckt den Horizont. Links ein Feld von Windkraftanlagen. Hier hätte es Don Quichotte schwer. Sie hat ihn immer beneidet, für ihn gab es nur eine Wahrheit. Für sie gibt es zu viele oder keine, jedenfalls nie ihre eigene. In den kurzen Augenblicken, wenn sie Blut auf ihrer Haut herablaufen sieht, wenn gleich darauf der dünne Schmerz von dem Spalt in ihrer Haut durch ihren Körper läuft und sich ausbreitet bis in ihren Bauch, der sich zusammenkrampft vor Schreck und Scham und Stolz, in solchen Augenblicken ahnt sie die Möglichkeit einer eigenen Wahrheit. Aber bisher hat sie nie den Mut gehabt, tiefer nach sich zu graben unter der Oberfläche aus Fleisch und Gewohnheit.
Als sie am Deich ankommt, nennt sie das ihr erstes Geburtstagsgeschenk. Sie steigt über den Schafsdraht, geht auf die Deichkuppe und dahinter, grau wie der Himmel, aber bewegt, wie die Haut eines Tieres, das zum Land kriecht, das seine Muskeln anspannt und sich fressend annähert: Der Fluss, die Flut, fast schon das Meer.
Sie merkt nicht, wie sich auf der anderen Seite des Deiches der Stacheldraht in ihre Wade krallt, und wenn sie es merkt, verhallt der Schmerz sofort.
Sie setzt sich in den Nieselsand. Eine Muschel berührt ihre Hand. Ihr zweites Geschenk, beschließt sie. Das Messer bricht die Schalen auseinander, das halb glibberige, halb feste Wesen im Innern verströmt einen fischigen Geruch. Leben zeigt es nur durch feine Zuckungen. Das Messer gleitet leicht in den Körper hinein, kein Widerstand zu spüren, nur ein kurzer Krampf markiert das Sterben. Die Muschel sieht noch genau so aus, sie riecht nicht anders, das Gewicht und die chemische Zusammensetzung sind unverändert. Der Tod ist banal. Im Augenblick des Todes verändert sich weniger, als beim Essen einer Pizza, beim Haare schneiden oder beim Pinkeln.

Die scharfe Kante der leeren Muschelschale wandert über ihre Unterarme. Dünne Linien bleiben weiß auf der Haut zurück. Happy birthday, buchstabiert sie über die streifigen Narben auf ihrem Arm. Sie verstärkt den Druck, winzige rote Pünktchen bilden die Worte nach: Happy birthday. Ein Tropfen rinnt ihren Arm hinab. Er wird vom Wasser abgeleckt, das die Sandinsel fast schon umschließt. Sie spült die rote Schrift mit dem salzigen Wasser ab. Wie Tränen, denkt sie.
Auf dem nassen Arm sickert das Blut schlierig nach, trübe, unentschlossen… Wütend springt ihr das Messer in die Hand. Träge wie Deine Mutter!, ruft es und formt die Buchstaben nach. Schnell und tief. Der Schmerz betäubt den Schmerz. Das Messer nähert sich dem Y, direkt über der Pulsader. Ab heute wird sie entschlossen sein und klar. Jeder Schnitt ist ein scharfes NEIN, und der letzte Schnitt würde alle Schuld und Scham zertrennen, zerfetzen und sie befreien.
Eine Bewegung, ein dunkles Zittern, lenkt ihren Blick ab. Das Wasser hat einen Vogel erreicht, der bisher reglos im Sand gesessen hatte. Groß, schwarz, mit einem feinen weißen Streif über den Augen.
Jetzt nicht, sagt es in ihr, jetzt bringst du dies zu Ende. Aber solange er sie ansieht, kann sie es nicht vollenden. Dieser Schnitt gehört ihr allein. Sie will ihn nicht teilen.
Sie geht auf den Vogel zu. Die Flut spült über seine Füße. Er verfolgt starr wie sie näher kommt. Alarmiert reckt er den Kopf, versucht aufzufliegen, wird zurückgehalten von Fäden, die vielfach um sein Bein gewickelt sind.
Sie kann weißes Brustgefieder sehen, verschlammt von Flugversuchen. Und Panik in seinem Blick, das Rasen seines Herzens, aber auch die Erschöpfung, beinahe Resignation. In einem Flügel steckt ein Angelhaken mit mehreren Bögen, eine Schnur hat sich an seinen Füßen verknäult und an einem rostigen Eisenstab am Boden verfangen.
Der Vogel liegt jetzt zur Hälfte im Wasser, matt und kraftlos. Das Ende schleicht sich an ihn heran. In der rechten Hand wartet ihr Messer, mit der linken greift sie das Tier. Mein drittes Geburtstagsgeschenk, sagt sie laut. Der Vogel zuckt zusammen, windet sich und hackt nach ihrer Hand.
Sie schneidet die Fäden durch. Sie löst sie vom Bein und von den Schwimmhäuten, trennt Verknotetes heraus, bis die Füße frei sind. Sie spreizt den Flügel ab, so kann sie zwischen den Federn die drei Bögen des Hakens erkennen. Bei jeder Drehung bohrt sich eines der Enden weiter in die Haut hinein. Sie schneidet neben dem Haken in den Muskel, feine Zuckungen gehen durch sie hindurch. Das Tier bebt. Sie lässt das Messer ins Wasser fallen, zieht den Haken heraus und lässt den Vogel los.
Er verharrt kurz und flattert mit hängendem Flügel bis ins Gras.

Wie lange haben sie dort gesessen? Sie weiß es nicht. Ihr Finger, von einem der Widerhaken blutig gerissen, schmerzt angenehm heiß und pulsierend. Als das Wasser den Sand ganz überspült, steht sie auf. Der Vogel bleibt hocken. Sie ist sich sicher, dass der Flügel nicht gebrochen ist. Es liegt an ihm, sich zu entscheiden.

Sie schaut noch einmal in Richtung Meer, jetzt verschwimmt der Horizont nicht mehr im Grau, er ist als klare Linie zu erkennen.

Ein Gastbeitrag von Ursula Pickener

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Ursula Pickener, Autor,
lebt und arbeitet in Bremen-Nord.