Die Songs und Themen der Anderen

Jedem Menschen seine Privatsphäre. Das ist ein hohes Gut, so steht es im Grundgesetz. Und wehe, wenn es einer wagen sollte, seine Nase in des Nächsten Angelegenheit zu stecken. Dann werden gefühlt 100 Prozent der Bevölkerung sauer. Nur in den sozialen Netzwerken haben sie ja nichts zu verbergen – aber das ist eine andere Geschichte. Was ich sagen will: Wer sich jetzt für das Leben seiner Nachbarn interessiert, hat leichtes Spiel. Denn es ist Sommer, die Nächte sind lau. Da bleiben Fenster und Türen nachts geöffnet.

Es ist die Zeit, in der ich eben von jener so schützenswerten Privatsphäre der Nachbarn einiges mitbekommen – ob ich möchte oder nicht. Je nach Lage der Dinge ist es mein Glück oder Pech, dass ein seit mehr als 20 Jahren ungenutztes ehemaliges Veranstaltungszentrum an meine Wohnung grenzt. Die graue Betonmauer, auf die ich seit zehn Jahren schaue, ist nicht nur hässlich. Der Schall wird gemäß eines physikalischen Gesetzes reflektiert. Die Formel dazu lautet übrigens α = α. Oder für in Naturwissenschaften nicht ganz so bewanderte Menschen: Die lange Wand wirkt wie ein Verstärker. Ich bekommen praktisch jedes Gespräch in der Nachbarschaft mit.

Die lieben Nachbarn links

In den meisten Fällen wirkt es lustig bis interessant. Besonders dann, wenn die bis tief in die Nacht draußen sitzenden Nachbarn glauben, alle anderen sind bereits im Bett. Dann kommen Themen auf den Tisch, über die aller Wahrscheinlichkeit tagsüber kaum jemand spricht. Und ich werde aufgrund der langen Wand des ehemaligen Veranstaltungszentrums Zeuge dessen, was da in der Nachbarschaft gesprochen wird. Ob ich möchte oder nicht.

Zum Schmunzeln sind meine Nachbarn links. Sie fallen unter die Kategorie „besonders rücksichtsvoll“. In gepflegtem Ton philosophieren sie über die Zukunft von Werder Bremen in der Fußball-Bundesliga. Die Wand sorgt dafür, dass selbst Gespräche in sprichwörtlicher Zimmerlautstärke so bei mir ankommen, dass ich jedes Wort verstehe und praktisch mitreden könnte – wenn ich denn Ahnung von Fußball hätte oder es mich überhaupt interessieren würde.

Selbst als die ältere Tochter vor einigen Jahren ihren 18. Geburtstag feierte, blieb es bis auf einige Ausreißer durch Gekicher und Gelächter leise. Die Entschuldigung einige Tage zuvor, dass sie ja nun volljährig werde und es etwas lauter sein könne, war völlig unnötig. Selbst meine Bitte, bei der Feier gerne AC/DC, Deep Purple, Status Quo, Foo Fighters, Blues Brothers und anderes gutes musikalisches Zeug anzumachen, blieb ungehört.

Die Schlagergröhlerinnen

Da sind die Nachbarn aus dem Haus gleich unterhalb meines Balkons schon ein anderes Kaliber. In einer lauen Julinacht des vergangenen Jahres durchlebte ich innerhalb von fünf bis zehn Minuten gleich mehrere Gefühle: Schock und Angst, Ärger, Belustigung, Trotz. Für eine derartige Schwerarbeit meines vegetativen Nervensystems sorgte ein halbes Dutzend Frauen, die den Geburtstag meiner Nachbarin feierten. Nach dem üblichen Grillen ballerten Spotify oder Alexa einen Schlager nach dem anderen raus. Und zwar in maximaler Lautstärke.

Bis nach Mitternacht sangen die Frauen alles von Helene Fischer über Andrea Berg bis zum Wendler mit. Mit steigendem Alkoholpegel nutzten die Damen konsequent jede der mannigfachen Möglichkeiten des Tonleitersystems. Gleichzeitig! Nachdem der erste Schock bei mir überwunden war, belustigte mich der kleine Haufen feiernder Damen. Ich schloss meine Balkontür für eine Weile, sodass ich wieder das verstehen konnte, was ich mir gerade im Fernsehen anschaute.

Der Nachwuchs kann es auch

In diesem Jahr sind es nicht die feiernden Damen, die für Aufmerksamkeit sorgen, sondern ihr Nachwuchs. Glücklicherweise singen sie nicht, sondern nutzen lieber die Segnungen der Informationstechniken. Stundenlang schnacken die Teenagerinnen draußen gut vernehmbar über ihr Smartphone mit Jungs. Bei einigen müssen sie maximal gesprochenes Englisch sprechen, was bei mir einen extremen Lachreflex auslöst. Die jungen Damen schauen kurz verschreckt auf, können aber nicht lokalisieren, aus welcher Richtung der Lacher kommt.

Etwas verschreckt war auch ich, aber das liegt schon einige Jahre. Damals ließ die hässliche Wand des Veranstaltungszentrums die komplette Nachbarschaft akustisch an der Liebesnacht eines Pärchens teilhaben. Wer es war, erschloss sich nicht. Nur soviel war deutlich zu hören: Es waren ekstatische Stunden.

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