DESILLUSIONIERT

Ganz spontan machte ich mich letzte Woche auf den Weg ins Kino. Unterwegs verspürte ich dieses wahnsinniges Kribbeln der Vorfreude im Magen.

Irre. Kino. Was für wunderbare Erinnerungen verbinde ich mit unzähligen Besuchen in den letzten 50 Jahren. Beste Freunde und Freundinnen wurden geknutscht, verführt, befummelt und in diverse emotionale Fallen gelockt. Ganze Abende und Nächte habe ich von großen Heldentaten und der Bardot geträumt.

Allein „Spiel mir das Lied vom Tod“ habe ich in den Siebziegern achtmal gesehen. Eine geile Zeit, in der nicht nur der Colt oft ziemlich locker saß.
Nun sollte ich das endlich wieder erleben. In der Schauburg lief ein auf Klassik gemachtes Werk über die berühmte Romy S. Der Film war eigentlich Nebensache, und die Romy war mir im Prinzip auch schnurzegal. Ich wollte diese besondere Luft nach Freiheit und Popcorn schnuppern und mich in eine andere Zeit zurückversetzen lassen, in die Zeit der großen Gefühle und des Erwachsenwerdens.
Gespannt ließ ich mich in einen samtroten Sessel in der letzten Reihe fallen. Meine Hand strich vorsichtig über den weichen Stoff: Ja, das ist es, sinnierte ich behaglich.
Der Vorhang glitt lautlos auf und das überdimensioniert prächtige Bild ließ meinen Atem stocken: Keine Farbe – alles schwarzweiß!

Hey Leute, was soll das denn?, wollte ich entsetzt rufen, beherrschte mich aber gerade noch rechtzeitig. Low Budget in diesen künstlichen Zeiten.

Der nächste sich leise ankündigende Schock: Ich begann zu schwitzen, erst leicht und dann immer mehr. Irgendetwas stimmte nicht mit der Sauerstoffzufuhr in diesem Saal. Ich muss was unternehmen, entweder an der Kasse Bescheid sagen oder mich gleich schweratmend auf den Teppich im Gang wälzen?

Noch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, bekam ich einen Krampf im rechten Oberschenkel. Reflexartig streckte ich mein schmerzendes Bein mit aller Wucht nach vorn aus. Wie von der Tarantel gestochen sprang brüllend vor mir ein glatzköpfiges Männchen auf und versperrte mir armewedelnd und völlig entgeister endgültig die Sicht auf das vom Schweiß ohnehin schon verschwommene Bild.

Es reicht. Raus hier. Der Traum vom großen Kinoabend war ausgelebt. Vor der Tür wieder zu Kräften gekommen, kramte ich nach meinem Telephone, denn Aufgeben ist nicht gerade eine meiner Stärken. Schnell checkte ich das restliche Filmprogramm der Stadt.

Diamantpalast,Cinemoritzz,
Schaukel, Guckburg,überall der
gleiche Scheiß. Darf ich mir eigentlich nun aussuchen, wo der beschissenste Film laüft? Verflixt!

Wäre ich nur Zuhause geblieben, jaulte ich innerlich fluchend.
Wohin ist bloß die Magie von früher verschwunden, dieses wunderbar einmalige Gefühl locker wie ein Rocker im Sessel zu flätzen und in eine Welt voller phantasievoller Träume abzutauchen?

Bin ich es, der sich verändert hat oder ist es einfach nur das verrückte Leben, in der traditionelle Werte offensichtlich keinen Wert mehr haben?

Es fing an zu regnen. Ich sprintete ins nächste Café und beschloss nicht „So“ zu sein, mir nicht nehmen zu lassen, was ich ganz tief in mir drin noch immer fühlte. 
Ich bestellte einen Kaffee und schloss in diesem Moment der Ruhe kurz die Augen. 

Und da war es wieder, dieses Kribbeln im Bauch. Ich spürte Demut und eine große Zufriedenheit. 
Nein, es war heute kein perfekter Tag und trotzdem hat er mir eine Ahnung davon gegeben, wer ich bin und woher ich komme. Es ist doch erstaunlich, wie schnell man sich von Äußerlichkeiten völlig aus dem Gleichgewicht bringen lassen kann.
Ich werde es noch einmal versuchen mit dem Kino. Und dann bestimme ich, wie die ganze Sache abläuft und es wird ganz bestimmt ein wunderbarer Tag.

Udo Schmidt, unser Kultwirt aus dem
www.horizont-bremen.de