Wenn zutreffen sollte, dass alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen muss, hätte sich die Sache mit Bremen-Nord schon lange erledigt. Auch für mich, seit meiner Ankunft im Jahr 1979 in Bremen, und seit meinen Versuchen, die Stadt in ihrer ganzen Ausdehnung zu erkunden. Ein, wie ich schnell lernte, so nicht vorgesehenes Ansinnen. Bremen, das erwies sich als eine in ihren Konturen vom Mittelalter herrührende Kernstadt mit sie umschließenden Siedlungsräumen, die sie, als Ganzes, wie eine Samtgemeinde aussehen ließen. Was ihr Äußeres anging, glich die Stadt, von ihrem Umriss her betrachtet, eher einem Hühnerschenkel als einem sich durch innere Urbanität auszeichnenden Gebilde. Stadt, Land, Fluss: das Kinderspiel, das mir noch in bester Erinnerung war, hatte sich hier in platte Topografie mit an den Rän-dern ein paar Geestrücken eingeschrieben.

Einer mir eigenen Neugierde wegen, was Lebensräume von Menschen und deren Abbilder angeht, beschäftigte mich, wie es dazu gekommen sein mochte. Welchen Umständen sich die Existenz eines Viertels verdankte, das, damals wie heute von wenig mehr als 16 000 Einwohnern bevölkert, sich als Bühnenbild einer Avantgarde nach vorn schob. Woher die Annahme rühren mochte, dass es sich bei Bremen um eine Stadt der kurzen Wege handle, schon Hybris angesichts einer Längenausdehnung von 55 Kilometern bei allerdings an der schmalsten Stelle, am Bahnhof Burg, gerade einmal 800 Metern querbeet. Und wie und mit welchen Mitteln mochte man sich wohl auf das Selbstbild >Dorf mit Straßenbahn< verständigt haben, nachvollziehbar freilich, weil das Straßenbahnnetz kaum ein Drittel der Gesamtstadt er-schließt. >Kleinstes Bundesland< passt, einem offenkundigem Hang zur Selbstverzwergung folgend, bestens in diese Kategorie.

Voilá, sagte ich mir damals, das schaust du dir an. Schließlich hatte ich zuvor schon Nürnberg, Stuttgart und sogar Westberlin bis in ihre letzten Winkel erkundet. Wobei diese Städte freilich, anders als Bremen, an das ich jetzt geraten war, über brauchbare und in stetem Ausbau befindliche Nahverkehrsnetze verfügten.

Mit Blick auf den Hühnerschenkel, also vom Kartenbild her, weckten zuerst das Schienbein und das Wadenbein mein Interesse. Auch, weil dorthin, in den Stadtbezirk Bremen-Nord, eine dem Anschein nach brauchbare Zugverbindung existierte. Die erwies sich dann jedoch als ein Relikt aus den Adenauerjahren, graue Silberlinggarnituren, die sich in von Regen und Wind gepeitschte Zwischenhalte mühten, und für die man eine dieser weltweit schon außer Gebrauch gekommenen Pappfahrkarten brauchte, zu deren Erwerb man am Hauptbahnhof an einem gläsernen Schalter vor einem Zahlteller anstehen musste. Dann aber doch: Bremen-Vegesack, und die Ahnung von einer Größe der Gesamtstadt, für die sich die wenigsten ihrer Bewohner tatsächlich interessierten.

Bremen-Nord glich dann, wie ich schnell lernte, aber weniger einem Stadtteil als einem Fegefeuer der Eigenheiten. Mit eigener Hauptpostleitzahl, 2820, eigenen Kfz-Kennzeichen und Mentalitäten, die, für alle Notfälle, die dies erforderlich machen sollten, die Bewohner nach Bremen aufbrechen ließen. Die Floskel war damals noch nicht in aller Munde, aber irgendwie, war da wohl nicht zusammengewachsen, was offenbar nur dem Namen nach und irgendwelcher Traditionen wegen zusammengehörte. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Niemanden aus Schwachhausen, wo ich seinerzeit lebte, zog es nach Bremen-Nord.

Dabei lag die Eingemeindung der entweder Teilstadt oder bremischen Halbkolonie im Jahr 1979 schon vierzig Jahre zurück. Hervorgegangen aus dem ursprünglich von Bremen gegründeten vormaligen Seefahrerstädtchen Vegesack, dem wirtschaftlich durch und durch von Bremen geprägten preußisch-hannoverschen Industriestandort Blumenthal, den um diesen sich gruppierenden Kahnschiffergemeinden und den mondänen, ebenfalls preußischen, aber von Bremer Kaufleuten in ihrem Erscheinungsbild beeinflussten Nobelvororten Lesum und St. Magnus. Dazu, auf dieser Entwicklungslinie, dann wieder das als Industriebezirk vollkommen andersartige Grohn. Ein Gebilde voller Widersprüche in sich, mit freilich einer, am ganzen Bremen gemessen, sozusagen inneren Wesensverwandtschaft: Bremen-Nord folgte als, wie die Geografen das nennen, Bandstadt mit seinen wie an einer Schnur aufgereihten Gemeindeteilen ganz dem Rücken der von der Lesum bis zur Weser verlaufenden Geest.

Was mich auf der Stelle für Bremen-Nord einnahm, war nicht in erster Linie das den dort ansässigen Menschen trotzige Selbstbewusstsein, etwas sehr Eigenes, Besonderes und Unwiederholbares zu verkörpern. Nachkommen von Seefahrern eben oder sogar noch Praktiker auf diesem Gebiet. Was mich, als Binnenländer, weit mehr fesselte, war der Anblick großer, von dort nach wie von Bremen ein- und ausgehender Schiffe, die Sicht auf die eine große wie die zahlreichen kleineren Werften in deren Reichweite und das Vorhandensein eines, wiewohl schon untergegangenen, Hafenbezirks mit vor allem zahlreichen Lokalitäten aus dieser Zeit. Nicht ohne Grund wohl war dem im Vorfeld der Entstehung von Bremen-Nord mit einem Gutachten da-zu beauftragten Göttinger Geografen Kurt Brüning damals schon aufgefallen, die Bevölkerung auf diesem Terrain sei ungeachtet enger wirtschaftlicher Beziehungen zu Bremen mit einem signifikanten Eigenleben behaftet. Dass es desungeachtet anders kam, gegen den erbitterten Widerstand des damaligen preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, der vor allem den Verlust von Steuereinnahmen aus dem seinerzeit prosperierenden Blumenthal fürchtete, ist allgemein bekannt.

Bremen hätte danach gut daran getan, Bremen-Nord zu mehr als nur einer ihm halbwegs zugeflogenen Sache zu machen. Stattdessen ist die entscheidende Eigenheit der gesamtbremischen Geografie, die Anlage als Bandstadt mit einem Zentrum, das sich tatsächlich in einer Randlage befindet, zu keinem Zeitpunkt Gegenstand irgendwelcher städtebaulicher Überlegungen gewesen. Bremen verfügt, um nur ein gerade aktuelles Beispiel zu nennen, als einzige Stadt mit über 500 000 Einwohnern in Deutschland über kein funktionstüchtiges S-Bahn-System. Überlegungen dazu wurden erstmals 1970 angestellt und sogleich wieder verworfen. Die 2010/11 an den Start gegangene Regio-S-Bahn gibt schon im Namen zu erkennen, dass man die außerhalb der Kernstadt liegenden Bezirke und ganz besonders Bremen-Nord als auf durchaus bewusst offen gehaltene Weise einer Region zugehörig ansieht, deren Lage wie Beschaffenheit sich nicht wesentlich vom niedersächsischen Umland unterscheiden. In jedem Lehrbuch zur Betriebsführung des öffentlichen Nahverkehrs hätte man nachschlagen können, dass der Ausbau der Hauptmagistrale, in unserem Fall zwischen wenigstens Hauptbahnhof und Bf. Vegesack, besonderer strategischer Anstrengungen bedarf. Dafür kriegte das niedersächsische Lilienthal mit der Straßenbahnlinie 4 einen eigenen kostspieligen Anschluss, wodurch sich wenigstens zu einem Dorf mit Straßenbahn ein zweites gesellte.

Um die Sache zu einem halbwegs mildtätigen Abschluss zu bringen. Für mich haben nicht nur die Besonderheiten der Lokalität Bremen-Nord, sondern vor allem deren Lokalitäten dort den Ausschlag dafür gegeben, mich, ob nun weiterhin Bremer oder nicht, dort niederzulassen. Nach außen bleibt einem, schon weil es im Reisepass steht, nichts anderes übrig, als als Angehöriger der Stadtgemeinde Bremen in Erscheinung zu treten. Wie es im Herzen aussieht, geht niemanden etwas an, schon deshalb, weil es schwerfällt, ein kleinstes Bundesland im Herzen zu tragen.

Wir bedanken uns bei

Gerald Sammet

Die Redaktion

Gerald Sammet, Autor,

lebt und arbeitet in Bremen-Nord