Schüler proben den Aufstand

1968: in allen Medien wird an die Rebellion erinnert, die vor 50 Jahren viele junge Menschen in aller Welt auf die Straße trieb – in Berkeley, Tokio und Paris, in Berlin, Frankfurt und auch in Bremen.

In der Hansestadt waren es aber nicht in erster Linie Studenten, die Autoritäten infrage stellten, Tabus brachen und gegen den Vietnamkrieg und die Neofaschisten demonstrierten, denn hier gab es vor der Uni-Gründung 1971 nur zwei kleine Fachhochschulen. Hier übernahmen Schüler die Rolle der protestierenden Avantgarde.

Angefangen hatte die Schülerbewegung interessanterweise in der Bremer „Provinz“: in Bremen-Nord. Zuerst trafen sich ab Sommer `67 etliche Oberstufenschüler des altehrwürdigen Vegesacker Gerhard-Rohlfs-Gymnasiums im gutbürgerlichen Café Hellweg und in der Seemannskneipe Fährhaus, um ihren Schulfrust loszuwerden und Protestaktionen zu planen.

Eine führende Rolle spielte dabei der Ex-Mitschüler Hermann Rademann, der an den Wochenenden aufrührerische Ideen von der Uni Hamburg nach Vegesack importierte. Später kamen noch Schüler des Gymnasiums Lesum dazu, u.a. Christof Köhler, der in der Zeitung gelesen hatte, dass in Berlin ein „Unabhängiger sozialistischer Schülerbund“ gegründet worden war, inspiriert vom SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), der ideologischen Speerspitze der kritischen Studentenbewegung.

Im Herbst `67 wurde dann von etwa zwei Dutzend Gymnasiasten aus Vegesack und Lesum der „Unabhängige Schülerbund“ (USB) gegründet – eine lockere „Bürgerinitiative“ engagierter Oberstufenschüler, ohne Vereinsstatuten und formale Verbindlichkeiten. Noch im Herbst `67 wurde ein bildungspolitischer Forderungskatalog erarbeitet und per Flugblatt verbreitet, in dem die Schulreform-Ideen konkretisiert wurden.

Gefordert wurden insbesondere eine Oberstufen-Reform, moderne Unterrichtsmethoden und -inhalte, Abschaffung von Disziplinarstrafen, Mitbestimmung der Schüler, Abschaffung der Schülerzeitungs-Zensur und ein Fach Sexualkunde sowie die Aufhebung des Rauchverbots auf Schulhöfen.

Den USB-Aktivisten gelang es schnell, eine rege schulpolitische Debatte am Vegesacker und am Lesumer Gymnasium anzustoßen – mit den Schülern, Lehrern, den Schulleitungen und den Elternvertretern, die zum Beispiel dazu beitrug, dass beide Gymnasien – als erste in Bremen – schon im Schuljahr `68/`69 eine reformierte Oberstufe einführten, dem das Oberstufen-Modell einer Buxtehuder Schule zugrunde lag. Es ermöglichte für die Schüler Wahlfreiheit bezüglich der Oberstufenkurse (und ihrer Lehrer) sowie neue Unterrichtsfächer und -methoden.

Der Nordbremer USB wurde zunehmend interessant, auch für die entstehende kritische Schüler-Szene in Bremen-Stadt. Durch einige persönliche Kontakte im Umfeld der Lila Eule – einem Kristallisationspunkt nicht nur für die aktuelle Musik, sondern auch für subversive politische Initiativen – kam es Ende `67 zur Gründung des gesamtbremischen USB, in dem die Nordbremer   USBler mitarbeiteten.

Schnell erweiterte sich das Themen- und Aktionsspektrum: von den Straßenbahntarifen bis zum Vietnamkrieg. Nachdem die Schüler an Weihnachten `67 vor fast allen Kirchen mit Mahnwachen an den Vietnamkrieg erinnert hatten, fuhren einige im Januar zum großen Vietnam-Kongress nach Berlin und brachten die davon ausgehende Politisierungs-Euphorie mit zurück nach Bremen.

Dort ereignete sich auch im Januar eine Art von „politischem Urknall“ der Bremer Schüler-Protestbewegung: die „Straßenbahnunruhen“, durch die Bremer Schüler plötzlich in allen Medien Schlagzeilen machten.

Auslöser waren die als unsozial empfundenen Tariferhöhungen der Straßenbahn. Als einige Schüler Protestflugblätter auf dem Verkehrsknotenpunkt Domsheide verteilten, kam es zu spontanen Gleisbesetzungen, die von der Polizei abgeräumt wurden. In den nächsten Tagen eskalierte das Wechselspiel von Blockadeaktionen und massiven Polizeieinsätzen, von Steinwürfen und Schlagstock- und Wasserwerfereinsätzen sowie Massenverhaftungen.

Erst zum Ende dieser skandalösen Woche gab es Verhandlungen zwischen Senatsvertretern und Schülersprechern, bis schließlich der Bürgermeister Hans Koschnick vor tausenden Demonstranten auf dem Domshof bereit war, sich für die Zurücknahme der Tariferhöhungen einzusetzen.

Legendär wurde der Auftritt des Schülersprechers aus Bremen-Nord, Hermann Rademann,

der Koschnick quasi ein Ultimatum stellte und zum Einlenken des Senats wesentlich beitrug.

Dieser Erfolg ermutigte die jugendliche Protestbewegung Anfang´68, auch bei wesentlicheren politischen Themen spektakuläre Aktionsformen einzusetzen, um eine breitere Soldarisierung der Bevölkerung zu erreichen.

Die größte „Einheitsfront“ der Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) war im Kampf gegen die geplanten Notstandsgesetze der Großen Koalition zu Stande gekommen. Als aber im Mai `68 diese dennoch in Bonn beschlossen worden waren, machte sich Ernüchterung breit. Eine weitere Desillusionierung bewirkte die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch die Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen und beendete damit die Hoffnung vieler Studenten und Schüler auf eine friedliche Entwicklung eines „demokratischen Sozialismus“.

Nach den großen Demonstrationen 1968 gegen die Notstandsgesetze, die NPD und den Springer-Konzern (nach dem Attentat auf Rudi Dutschke) erscheinen dann die Bremer Protestaktionen der Jahre `69 und `70 eher als punktuelle Provokationen einer schon politisch zersplitterten Schüler- und Studentenbewegung.

So organisierten Nordbremer Schüler zum Beispiel eine Protestaktion gegen die 100-Jahrfeier des Gerhard-Rohlfs-Gymnasiums („100 Jahre Klassenkampf“), einen Schulstreik und Demonstrationen gegen die Verhaftung, den Prozess und die Verurteilung ihres Mitschülers Christof Köhler (sechs Monate Haft für „Rädelsführerschaft“ bei einer Demo beim Bildungssenator), sowie ein skandalöses Go-in bei der Zeugniskonferenz des GRG im Rahmen einer bremenweiten Kampagne gegen den „Zensurenterror“.

Inzwischen hatte aber die sozialdemokratische Landespolitik in Bremen versucht, den Schülerprotest durch Bildungsreformen aufzufangen, wie zum Beispiel durch die Planung von Gesamtschulen und durch eine demokratischere Schulverfassung, die Schülermitbestimmung in den Schulgremien und Schülervertretungen ermöglichte und die bisherigen Schülerringe ablöste.

Die Listenwahlen für die Schülervertretungen hatten allerdings zur Folge, dass konkurrierende Schülerorganisationen, die sich meistens an bestehenden Parteien und den sogenannten kommunistisch ausgerichtete politische Gruppen (K-Gruppen) orientierten, erst um eine Mehrheit kämpfen mussten, welche dann für die einzelnen Schulen und die Gesamtschülervertretung die jeweilige Strategie der Interessenvertretung bestimmte. Die Zeit des USB mit seinem Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich der Schülerinteressen war somit ab 1970 vorbei.

Die Träume mancher USBler Ende der 60er und verschiedener linksorientierter Gruppen in den 70ern von einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung erwiesen sich als illusionär.

Die „Kulturrevolution“ dieser Zeit hat allerdings vieles im Alltagsleben nachhaltig beeinflusst: Von emanzipierten Geschlechterbeziehungen bis zu einer eigenen Jugendkultur, von  alternativen Lebensentwürfen bis zu basisdemokratischen Bürgerinitiativen.

Literatur:

Egbert Heiß,

Schulen in Bremen-Nord:

„Keimzellen der Unruhen“ (2018)

Detlef Michelers, Draufhauen, Draufhauen, Nachsetzen!

Die Bremer Schülerbewegung (2002)

Olaf Dinné u.a., 68 – anno dunnemals in Bremen (1998)

Egbert Heiß war bis zu seiner Pensionierung zuletzt als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gymnasium Vegesack tätig. Im Jahr 1989 war er er als erster Nordbremer Kulturreferent abgeordnet worden.

"100-Jahre Klassenkampf", Protestaktion gegen GRG-Jubelfeier vor der Strandlust“ (Fotoarchiv Einemann)